Das viktorianische Detektiv-Rollenspiel „Private Eye“ kann dafür, dass es sich ja doch eher um ein Nischen-Produkt handelt, eine stattliche Erfolgsgeschichte vorweisen. Aktuell ist die 5. Auflage des Grundregelwerks erschienen, auch die Abenteuerreihe feiert ihre erste erfolgreiche Dekade. Zu diesem Jubiläum hatte die „Redaktion Phantastik“ einen Wettbewerb (Link) ausgerufen, deren drei Sieger im aktuellen 10. Abenteuerband veröffentlicht wurden. Na mal schauen, ob die Jury richtig ausgesucht hat ;-) Was „Liebe, Geld und andere Intrigen“ – nebenbei nicht nur der Titel des Abenteuer-Bandes, sondern auch des Sieger-Abenteuers von Ralf Sandfuchs – auszeichnet, ist die große Bandbreite an Kriminalfällen, welche das ganze Potential des viktorianischen Settings ausloten und aufzeigen, dass „Private Eye“ eben mehr kann als mysteriöse Mordfälle in Adelsfamilien:
- „Liebe, Geld und andere Intrigen“ vom Gewinner Ralf Sandfuchs bietet mit Heiratsschwindelei, Betrügerei, Erpressung, den obligatorischen Intrigen und sogar der Entführung einer jungen Frau einen anfangs recht bieder erscheinenden, dann aber umso interessanteren Kriminalfall: Ein charmanter Heiratsschwindler hat Lord Maxwell nicht nur um stattliche 5000 Pfund erleichtert, sondern auch noch das Herz seiner Tochter Rowena gestohlen. Nun will der Lord natürlich Rache, wollte er doch eigentlich seinerseits den vermeintlich reichen Schwiegersohn in spe zur Zahlung seiner eigenen Schulden ausnutzen. Die Geschichte eskaliert, als zu allem Überfluss auch noch Rowena entführt wird... Ein wirklich interessantes Abenteuer, bei welchem ich durchaus verstehen kann, warum es den Wettbewerb gewonnen hat. Der Fall ist dabei recht offen gestaltet, sodass die Ermittler in verschiedene Richtungen ermitteln können. Dabei ist der Spielleiter gefordert, muss er doch gegebenenfalls improvisieren und je nach Ermittlungsverlauf auch einige Ereignisse im Hintergrund ablaufen lassen. - Das zweitplatzierte Abenteuer „Der Magier“ von Natascha Weiler ist einerseits mein persönliches Highlight des Bandes, andererseits funktioniert es meiner Meinung nach als alleinstehender Kriminalfall eher weniger. Es „muss“ sozusagen im Rahmen einer laufenden Kampagne gespielt werden, um sein volles Potential zu entfalten. Aber worum geht es eigentlich? Der Magier ist ein überaus trickreicher Einbrecher, der mehrere adelige Familien um wertvolle Gegenstände erleichtert. Dabei hinterlässt er an jedem Tatort nur sehr wenige Spuren, sodass man nach jedem Einbruch die wenigen neuen Erkenntnisse wie ein Puzzle immer weiter zusammensetzen muss, um den trickreichen Gauner letztendlich doch zu erwischen. Mindestens die ersten drei der fünf Tatorte eignen sich somit jeweils auch eher als kurze Einschübe in eine fortlaufende Kampagne, denn wenn man dieses Abenteuer am Stück spielt ist es eher „Tatort 1: Kaum Spuren gefunden, keine Ahnung, auf den nächsten Einbruch warten... Tatort 2: Kaum Spuren gefunden, immer noch keine Ahnung, auf den nächsten Einbruch warten...“ - Erst mit dem vierten Fall nimmt die Geschichte dann Fahrt auf, die Schlinge zieht sich zu :-) Ab dann haben die Ermittler auch richtig viel zu tun, können sie doch mit ihren neu gewonnenen Erkenntnissen zurück an die alten Tatorte, um neue Hinweise zu finden. - Mit „Die Leiche im Moor“ von Martin Dürr und Markus Kühn hat es dann doch noch ein durch und durch klassisches „Private Eye“-Abenteuer in diesen Jubiläumsband geschafft. Da er recht linear aufgebaut und lokal begrenzt ist, ist der Kriminalfall auch besonders für Neu-Detektive und Spielleiter-Anfänger geeignet: Ab der Entdeckung einer Frauenleiche im Moor (pikanterweise wurde man von eben jener noch wenige Stunden vorher vollgequatscht) führt ein Hinweis zum nächsten, bringt jede Zeugenaussage etwas mehr Licht ins Dunkel, bis man den Mörder überführt und vielleicht sogar noch von einem weiteren Mord abgehalten hat... Dezenter Spoiler: „Die Leiche im Moor“ ist auch wieder ein guter, spannender Kriminalfall, der nach meiner Erfahrung aber des Settings wegen ein wenig zu durchschaubar war – Sind wir mal ehrlich, bei „Private Eye“ ist es im Zweifelsfall halt doch eher der Adelige und nicht der Normalsterbliche ;-)
Der Aufbau der drei Kriminalfälle ist „Private Eye“-typisch, also es gibt erst eine Zusammenfassung, dann den eigentlichen Fall und zuletzt eine Zusammenfassung der NSCs mitsamt Beschreibung (bei wichtigen Personen auch mit Charakterwerten). Mit Karten, Zeitleisten und Beziehungsdiagrammen wird dem Spielleiter zudem hilfreiches Material an die Hand gegeben. Die allesamt gut geschriebenen und lektorierten Texte sind mit viel Bildmaterial und einigen Infoboxen aufgelockert. Dabei sind sie übersichtlich gelayoutet, sodass man rasch die gesuchte Information findet. Leider habe ich das Layout betreffend aber trotzdem einige kleinere Kritikpunkte: Erstens gibt es das „alte Private Eye“-Problem, dass manche Bilder und Illustrationen zu grob gepixelt sind. Zweitens hätte etwas Abstand des Textes zu den Rändern der Textboxen schöner ausgesehen. Zudem muss ich noch kritisch anmerken, dass die Seitenangabe des Inhaltsverzeichnisses des zweiten Abenteuers nicht korrekt ist und dass die Karten-Handouts nicht zur Abgabe an die Spieler verwendbar sind, da diese mit den Hinweisnummern bedruckt sind – Man soll die Spieler-Handouts zwar auf der Verlagsseite (Link) downloaden können, aber noch habe ich kein Material dazu gefunden (EDIT: Gerade vom Verlag erfahren, dass diese in Kürze online sein werden, allerspätestens nächste Woche :-)). Hier gibt es also ein paar Punkte Abzüge in der B-Note eines inhaltlich sehr guten Abenteuerbandes. Da die Druckqualität des DIN-A4-Softcovers mit Klebebindung aber in Ordnung geht und der Umfang mit drei spannenden Abenteuern auf 72 Seiten für viele Spieleabende ausreicht, betrachte ich die von der „Redaktion Phantastik“ (welche mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellten) verlangten 16,95 € für solch ein Nischensystem als durchaus angemessen. Fazit: Schade, durch die unglücklichen Abzüge in der B-Note scheitert der Jubiläumsband „Liebe, Geld und Intrigen“ (Link) knapp daran, das bisher beste Abenteuer der Reihe zu sein. Nichtsdestotrotz haben hier drei abwechslungsreiche, spannende Abenteuer verdient gewonnen – Jedem „Private Eye“-Fan sei der 10. Band ans Herz gelegt :-) (und generell jedem Fan von Detektiv-Abenteuern, denn man kann dieses auch super mit „Cthulhu 7. Ed.“ etc. spielen)