Ich lese ja immer mal wieder Comics mit queeren Themen oder schaue auch mal eine entsprechende Netflix-Serie, aber damit decke ich zweifelsohne nur einen winzigen Teil der ganzen Bandbreite an queeren Themenkomplexen ab. Und so verwundert es nicht, dass „Coming In“ für mich ein Thema aufwirft, das ich noch nirgendwo in dieser Ausführlichkeit gelesen/gesehen habe und über das ich mir als Heteromann auch sonst noch nie einen Gedanken gemacht habe. Denn das „Coming out“ ist ja allgegenwärtig, aber das „Coming in“ (also sozusagen die Selbsterkenntnis und Selbstakzeptanz) wird in entsprechenden Popkultur-Werken nie oder nur ganz am Rand thematisiert. Aber Gott sei Dank gibt es ja den „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), der immer mal wieder auch queere Themen ins eigentlich von SciFi & Fantasy geprägte Phantastik-Portfolio aufnimmt :-) Die auf der gleichnamigen ARTE-Podcastdokumentation basierende Graphic Novel erzählt die Selbstfindung und vor allem aber Selbstakzeptanz der französischen Journalistin Èlodie Font. Die möchte nämlich bis in ihre Dreißiger nicht wahrhaben, was ihr Umfeld schon seit vielen Jahren weiß: Èlodie ist lesbisch. Und sie findet immer neue Ausreden, um ihre sexuelle Orientierung vor sich selbst zu leugnen, beispielsweise führt sie ihre nicht funktionierendes heterosexuelles Liebesleben auf Frigidität zurück oder hält später ihre Beziehung zu einer Frau für einen einmaligen Ausrutscher. Das las sich für mich gerade deshalb so spannend, weil die typischen Verleugnung der Queerness ja normalerweise – also vor allen in Geschichten, aber ich hab das auch so schon „in der echten Welt“ im Freundeskreis erlebt – durch das Umfeld stattfindet (also z.B. Eltern, die glauben, das wäre nur eine Phase) und nicht von der betroffenen Person selbst. Hierdurch unterläuft „Coming in“ auch die typische Erzählstruktur von (queeren) Liebes- & Lebensgeschichten, denn was normalerweise der Höhepunkt ist (erste glückliche Beziehung mit der „richtigen“ Person), markiert hier nach knapp einem Drittel des 144 Seiten starken Bandes gerade mal den Auftakt zur beginnenden Akzeptanz der eigenen Homosexualität, bei der das Umfeld in weiten Teilen wesentlich offener für das Thema ist als Èlodie selbst. Dass man Élodies Geschichte über die Jahrzehnte sehr gut folgen kann liegt auch an den gelungenen Zeichnungen von Carole Maurel, welche viele Emotionen und Gedankengänge in ganz wundervoll kolorierte Zeichnungen packt, sodass die Geschichte trotz vieler Dialoge überraschend wenig Worte braucht. Und ich brauch auch keine Worte mehr, sondern komme direkt zum... Fazit: „Coming In“ (Link) ist eine der besten und wichtigsten Graphic Novels des Jahres! PS: Okay, ihr wisst ja, wenn Philipp nicht meckert, dann ist er nicht glücklich, also hab ich doch noch einen winzigen Kritikpunkt gefunden ;-) Wenn eine Geschichte so schwierige Probleme wie z.B. die Suizidgedanken der Protagonistin thematisiert, wären Trigger-Warnungen eventuell eine echt dufte Sache.
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