Während manche Jugendliche ihre Zeit damit verschwenden, besoffen an der Bushaltestelle zu sitzen, verbringen andere ihre Zeit lieber kreativ. So beispielsweise Jungautor Simon Wiese. Dieser schrieb schon in Jugendjahren mehrere Solo-Spielbücher, darunter sein nun veröffentlichtes Erstlingswerk „Der Weg der Wachtel“. Mit 827 Abschnitten auf 442 Seiten ein durchaus ambitioniertes Projekt, selbst Profis bringen öfters weniger zu Papier. Die Quantität stimmt also, aber kann er auch qualitativ mit anderen Autoren mithalten?
„Der Weg der Wachtel“ führt den Spieler zurück ins feudale Japan, in die Welt von Ninjas und Samurai... und Wachteln :-) Denn diese Welt wird von anthropomorphen Wachteln bevölkert, die sich aber ansonsten kaum von Menschen unterscheiden. Der Spieler übernimmt hier die Rolle eines chinesischen Flüchtlings, der im Land der aufgehenden Sonne ein neues Leben beginnen möchte. Als wohlhabender Händler in See gestochen, der dem vom Krieg zerrütteten China entkommen wollte, endet die Reise jedoch als mittellos Gestrandeter an der japanischen Küste. Das erste Ziel des Spielers heißt daher: Sich den Lebensunterhalt sichern... und Überleben! Denn zahllose Monster, aber auch bösartige andere Wachteln wie Räuber und Piraten, stellen sich dem Spieler in den Weg. Durch die zahlreichen, recht knackigen Kämpfe sammelt der Spieler dabei Erfahrungspunkte und Ausrüstung – Dies ermöglicht ihm irgendwann, eine Karriere als Samurai, Ninja oder Mönch anzustreben.
Das Sammeln von Erfahrungspunkten, Ausrüstung und natürlich auch Gold nimmt die erste Hälfte des Spielbuches ein. Hierfür kann man sich in einer, für ein Spielbuch, sehr offenen Welt bewegen. Vier größere Städte sowie Nebenschauplätze wie eine Erzmine laden dazu ein, seine Charakterwerte und Ausrüstung über zahlreiche kleine Nebenquests (Botschaft überbringen, Vermissten suchen etc.) sowie klassisches Grinding (Erz abbauen, Tiere jagen) und Handel (z.B. mit illegalem Opium) zu verbessern. Schließlich kann man eine Karriere als Möch einschlagen, um Magie zu erlernen. Oder als Samurai glorreiche Schlachten schlagen. Oder als Ninja in tödlicher Mission herumschleichen. Jede dieser Karrieremöglichkeiten bietet nochmal einen eigenen Erzählstrang, bevor man sich dem großen Finale stellen muss. Hier wird die Geschichte dann auch merklich linearer – Trotz dessen hat man aufgrund der offenen Spielwelt und der unterschiedlichen Klassen natürlich einen enormen Wiederspielbarkeitswert, der im Spielbuchbereich in dieser Qualität nicht oft zu finden ist.
Die Regeln sind mit 18 Seiten recht komplex geraten, wobei man gerade den umfangreichen Magieteil am Anfang jedoch ignorieren kann, sodass man doch rasch ins Spiel hineinfindet. Die Kämpfe funktionieren mit einfachen W6-Proben plus Ausrüstung plus Modifikator (z.B. Spezialfähigkeiten), bei denen man den jeweiligen Angriffswert mit dem jeweiligen Verteidigungswert vergleicht. Die Differenz wird dann als als Schaden von den Lebenspunkten abgezogen. Vor jedem Nahkampf kann man zudem versuchen, einen oder mehrere Fernkampfangriffe durchzuführen, auch hier wird wieder mit einer einfachen W6-Probe gewürfelt. Die gut beschriebenen Regeln ermöglichen zudem die Heilung im Kampf, eine Flucht und auch den Kampf mit mehreren Gegnern oder Verbündeten. Wer sie beherrscht, darf im Kampf auch Magie wirken. Neun verschiedene Zauber stehen zur Auswahl, die jeweils nur einmal erfolgreich je Kampf genutzt werden dürfen. Insgesamt ein recht schlankes, eingängiges Würfelsystem, dass man nach ein paar Versuchen intus hat.
„Der Weg der Wachtel“ zeichnet sich durch vielerlei Qualitäten aus: Großer Umfang, offene Spielwelt, hoher Wiederspielbarkeitswert, gut funktionierendes Regelsystem, interessante Spielwelt, atmosphärische Texte und nicht zuletzt großartige Zeichnungen. Einige wenige Kritikpunkte sollen jedoch nicht unerwähnt bleiben: Etwa teilweise ein zu hoher Zufallsfaktor, ein etwas harter Abschnittsübergang oder Entscheidungen, bei denen ich keinen Anhaltspunkt habe welche sinnvoller wäre. Das Layout ist, trotz zahlreicher toller Zeichnungen, irgendwie recht nüchtern. Auch wird der knackige Schwierigkeitsgrad mitunter schneller zum Tod führen, als man dem süßen Wachtel-Szenario zutraut ;-) Außerdem, aber das ist Meckern auf ganz hohem Niveau, hat die PDF keine internen Verlinkungen, was schon etwas anstrengend ist. Dafür ist sie jedoch kostenlos! Die gedruckte Version gibt es bei Lulu (Link) für aktuell 16,52 € als Softcover, was für ein Print-on-Demand-Buch eines Selbstverlegers ein absolut fairer Preis ist, gerade auch angesichts der Qualität!
Fazit: „Der Weg der Wachtel“ (Link) ist vielleicht nicht perfekt, aber definitiv sehr gut und voller Herzblut. Ich bin wirklich beeindruckt, was für eine Qualität und Quantität der zum Zeitpunkt der Entstehung jugendliche Autor Simon Wiese da geschaffen hat. Nicht vergessen möchte auch Zeichner David Staege, der das anthropomorphe Feudal-Japan gekonnt in Szene setzt. Meinen allergrößten Respekt und eine klare Kauf- beziehungsweise Downloadempfehlung (Link) an alle Leser da draußen!