Die „Kleine Reihe“ des aus einem Podcast hervorgegangenen Indie-Verlags „System Matters“ bietet optisch sehr ansprechende und vor allem regelleichte Erzählspiele, die man nach kürzester Vorbereitungszeit ausprobieren kann. Mittlerweile umfasst diese Reihe drei Titel, von denen das volkstümliche Gruselspiel „Geh nicht in den Winterwald“ laut Verlagsangaben (Link) der bisher größte Erfolg ist. Da mich die anderen beiden Titel, nämlich „Kagematsu“ (Link) und kürzlich „Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“ (Link) begeistern konnten, waren meine Erwartungen natürlich hoch…
Vielleicht gleich die größte Besonderheit zu Beginn: In „Geh nicht in den Winterwald“ verkörpern die Spieler nicht ihre Spielfiguren persönlich (also sagen beispielsweise nicht InGame „Ich versuche auf den Baum zu klettern.“), sondern vielmehr erzählen sie eine Geschichte in der dritten Person (daher „Pater John versuchte, auf den Baum zu klettern.“) – Ganz so, als würde man sich am Lagerfeuer Gruselgeschichten erzählen. Das ist anfangs eine Umgewöhnung, funktioniert nach einiger Zeit aber überraschend gut :-) Diese Gruselgeschichten handeln von einem kleinen, abgelegenen Puritaner-Dörfchen im späten 18. Jahrhundert. Religiöser Fanatismus, aber auch der Aberglaube an übernatürliche Mächte wie Geister und Hexen bestimmt das Leben der kleinen Dorfgemeinschaft. Östlich grenzt der sagenumwobene Winterwald an, der dank immerwährender Kälte und dichter Nebelschwaden schon von den früheren Ureinwohnern gefürchtet wurde. Aber es kommt, wie es kommen muss: Aus irgendeinem Grund (z.B. einem verschwundenen Kind, einem niedergegangenen Meteoriten) müssen sich die SpielerInnen doch dort hineinwagen.
Zuerst gilt es aber, sich einen Charakter zu erstellen. Dies funktioniert ganz einfach: Erst wählt man sein Geschlecht und dazu einen passenden Namen. Dann folgt die für das Spiel vielleicht wichtigste Wahl: Das Charakterkonzept. Hier entscheidet sich, in welche Richtung die Spielerfahrung gehen soll. Denn eine Gruppe unerschrockener Hexenjäger würde den spielerischen Fokus ganz anders legen als beispielsweise eine Gruppe typischer Dörfler (z. B. Holzfäller oder Geistlicher) oder gar als eine Gruppe Kinder. Zuletzt benötigt man noch ein Motiv, warum man sich eigentlich in den Winterwald hineintraut. Und das war es dann auch schon mit der Charaktererschaffung, das kann man sich (wenn man es beispielsweise wirklich am Lagerfeuer spielt) auch einfach merken – Außerdem wäre es eh schade drum, so viel Zeit in die Vorbereitung zu investieren, wenn man dann doch stirbt :-P
Ähnlich simpel wie die Charaktererschaffung ist auch das Regelsystem: Anstatt Attribute, Fertigkeiten und Lebenspunkte gibt es lediglich Kältemarker, welche den „Niedergang“ des Charakters darstellen. Diese erhält man immer dann, wenn man eine schreckliche oder nervenaufreibende Situation erlebt. Hat man sechs Kältemarker erreicht, endet das Spiel für diesen Charakter in einer zur Geschichte passenden Art und Weise (beispielsweise Tod oder Wahnsinn, bei einer Gruppe Kindern könnte denen auch einfach kalt sein und sie gehen heim). Proben werden mit einem W6 gegen die Anzahl der Kältemarker gewürfelt, wobei man den Zielwert überwürfeln muss. Hierzu muss der Spielleiter die Probe mit einer Ja/Nein-Frage in der dritten Person einleiten, beispielsweise „Schafft Pater John es auf den Baum raufzuklettern?“ oder „Kann Pater John dem Anblick der schrecklichen Hexe aushalten?“. Bedingt durch diese Regelmechanik werden die Proben im Spielverlauf immer schwieriger, was der dadurch dramatischer werdenden Geschichte einen recht festen Verlauf gibt: Erst geht’s aus einem wichtigen Grund rein in den Winterwald, dann erlebt man dort schreckliche Hindernisse und Begegnungen, zuletzt ist man tot / wahnsinnig oder aber ganz knapp heil heimgekehrt. Die Abenteuer bleiben vom Aufbau und der Länge her überschaubar – Bis das Lagerfeuer runtergebrannt ist, ist man schon lange fertig ;-) Das Regelbüchlein selbst spricht von durchschnittlich zwei Stunden Spielzeit. Dank dieser Überschaubarkeit halte ich „Geh nicht in den Winterwald“ daher ganz hervorragend für Neu-Rollenspiel(leit)er geeignet. Da das Szenario bewusst offen gestaltet wurde und viel Spielraum lässt, kann man damit auch sehr gut Kinder in das Hobby (Erzähl-)Rollenspiel einführen – Wie oben geschrieben sollten die Charaktere bei sechs Kältemarkern dann aber eher einfach heimgehen und nicht grausam sterben :-P
Nach den letzten beiden Absätzen kann man es sich fast schon denken: Charaktererschaffung und Regelerklärung umfassen nur wenige Seiten. Der Rest des insgesamt 72 Seiten dünnen Softcover-Büchleins ist einerseits gefüllt mit inspirierenden Legenden und Volkssagen, welche sehr atmosphärisch ein Gefühl für die Spielwelt vermitteln, und andererseits mit vier vorgefertigten Szenarien. Die Texte sind allesamt gut geschrieben, übersetzt und lektoriert – Die Lesefreude krankt allerdings an der viel zu kleinen Schrift. Zum spontanen Lesen am Lagerfeuer ist „Geh nicht in den Winterwald“ leider denkbar ungeeignet, selbst mit meiner Nachttischlampe hatte ich schon Probleme. Das ist aber auch der einzige Wermuttropfen der Präsentation, die ansonsten wieder ganz hervorragend gelungen ist: Das schwarz-weiße, nur an wenigen Stellen durch Farbe aufgelockerte Design ist hervorragend! Es ist jedes Mal erstaunlich, was dieser Kleinstverlag da qualitativ rausholt :-D Da zahlt man die 14,95 € für das Softcover (Link) beziehungsweise 7,49 € für die PDF (Link) sehr gern.
Fazit: Ich war ja schon von den anderen beiden Erzählspielen der „Kleinen Reihe“ begeistert, aber „Geh nicht in den Winterwald“ (Link) hat sich bei diesem Trio sofort an die Spitze gesetzt. Ein tolles Setting und einfache Regeln werden von „System Matters“ gewohnt stilvoll präsentiert. Zurecht ein Verkaufsschlager :-)