Mit ihrer „Kleinen Reihe“, also zwar schmalen, aber optisch ansprechenden Rollenspiel-Heften, hat der Kleinstverlag „System Matters“ sich bisher recht erfolgreich im umkämpfen deutschen Rollenspielmarkt behaupten können. Gerade „Geh nicht in den Winterwald“ war ein echter Verkaufsschlager, während „Kagematsu“ immerhin sehr wohlwollende Kritiken (Link) für sich beanspruchen konnte. Beiden Indie-Rollenspielen war gemein, dass sie trotz einem starken erzählerischen Fokus immer noch Würfelmechaniken zur Konfliktbewältigung besaßen. Mit dieser Tradition bricht nun „Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“, bei dem selbst die blutigsten Konflikte nur noch mit Worten ausgetragen werden ;-)
„Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“ ist ein Erzählspiel für fünf Personen, die alle starke positive bzw. negative Emotionen sowie staatstragende Verantwortung verbindet: Der alte König will sein schwächelndes Reich durch die Zwangsheirat seiner Tochter mit dem verhassten Jarl des Nachbarkönigreichs retten. Die heimlich magisch begabte Prinzessin findet das natürlich gar nicht toll, ist sie doch unsterblich in den Ritter verliebt. Der wiederum teilt das Lager mit ihr nur deshalb, weil er eigentlich dem Jarl dient und für ihn den alten König ausspioniert. Außerdem ist der Ritter wiederum in die Seiðkona verliebt, welche so ziemlich jeden in ihr Bett lässt… Also offensichtlich ziemlich komplizierte (Familien-)Verhältnisse, welche die fünf Spieler nun erzählerisch auflösen sollen. Da „Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“ dabei gern mal als Blut-Oper beworben wird, ist ein friedliches „Alle haben sich lieb“-Ende eher die unwahrscheinlichste Möglichkeit ;-)
Die Handlung entfaltet sich über mehrere Szenen, in denen jeweils eine Figur im Rampenlicht steht. Die restlichen Spieler dienen als Lotsen, sie arbeiten dem Hauptspieler zu und Lenken die Geschichte mit bestimmten Phrasen in eine spannendere Richtung. Dabei kommen jeweils zwei Lotsen Sonderaufgaben zu: Der jeweils links sitzende Spieler beschreibt die Orte und die jeweiligen Ereignisse, der jeweils rechts sitzende Spieler gibt die Themen (etwa das Verhalten) der Hauptfigur vor. Ein ungewöhnlicher Ansatz, dass man als Spieler sozusagen „fremdbestimmt“ ist, aber im Sinne einer spannenden Geschichte ist diese Aufgabenverteilung natürlich enorm zuträglich (“Hey Ritter, anstatt der Prinzessin bei eurem heimlichen Treffen im Liebesnest kitschig Honig ums Maul zu schmieren, verwandele dich doch lieber mal in einen Werwolf.“).
Wie funktioniert so eine Szene nun? Die Hauptfigur legt fest, wo man sich befindet und (falls er die Szene beschreiben will), was das Ziel dieser Szene ist (z.B. Liebesszene, Todesszene). Dann fängt er an, diese Szene auszuspielen, und darf dazu auch weitere Figuren einführen. Man spricht beziehungsweise spielt miteinander wie man möchte, doch dürfen die anderen Spieler die Handlung durch das Einwerfen sogenannter Phrasen (z.B. damit ein Detail genauer ausgespielt wird oder damit es Zwischenszenen mit anderen Handlungssträngen gibt) in bestimmte Richtungen lenken. Die Szene endet dann, wenn die Hauptfigur es für passend hält – Den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden ist vielleicht die schwerste Aufgabe im ganzen Spiel ;-)
Mehr gibt es eigentlich gar nicht zu sagen, ohne dass ich jetzt das gesamte Regelbüchlein abschreibe. Vom Spielgefühl erinnerte ich mich ungemein stark an Improvisationstheater, bei dem jeder zu Beginn eine feste Rolle mit einer festen Beziehung zu den anderen Schauspielern hat und bei dem aller paar Minuten mal ein Zuschauereinwurf (hier Lotsen) aufgegriffen und eingearbeitet wurde. Alles trotz Rahmenbedingungen ein wenig chaotisch, aber letztendlich kommt dann doch immer ein spannendes Drama bei raus :-) Nun ist das zugegebenermaßen absolut nicht die Art, wie meine Testgruppe und ich Rollenspiel betreiben, aber das soll das Lob für „Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“ nicht schmälern. Da steht ein durchdachtes Konzept dahinter, was vom „System Matters“-Verlag optisch ganz hervorragend und ungemein stilsicher in einem 68 Seiten starken Softcover umgesetzt wurde. Etwas weniger als die Hälfte davon umfasst die gut geschriebenen, mit vielen Beispielen versehenen Regeltexte, die restlichen Seiten enthalten Spielhilfen und Kopiervorlagen. Für die gebotene Qualität geht der Preis von 14,95 € (Softcover) beziehungsweise 7,49 € (PDF) vollkommen in Ordnung.
Fazit: Das Indie-Erzählrollenspiel „Die Liebe in den Zeiten des Seiðr“ (Link) bietet anspruchsvolles Improvisationstheater in einem spannenden, nordisch-mythologischen Setting.