Okay, es passiert schon wieder: Das Internet ist voll von Lobeshymnen über einen Comic. Wendungsreich und natürlich wunderschön soll er sein, der „Herbst an der Bucht der Somme“. Fünf Sterne, ach was, zehn Sterne! Zugreifen! ...und dann komm ich und vermiese dem „Splitter Verlag“ (der noch immer mutig genug ist, mir Rezensionsexemplare zu schicken, viel Liebe dafür!) wieder mal den Tag, denn so wirklich gut ist dieser Belle Époche-Kriminalfall dann halt doch nicht. Alles beginnt mit einem Mord. An Bord eines Schoners, gestrandet an der Bucht der Somme, wird die Leiche eines Großindustriellen entdeckt. Und das ist kein schöner Anblick, denn offenbar wurde ein besonders fieses Gift verwendet, durch dass das Opfer qualvoll gelitten hat. Der einzige Hinweis ist die Zahlenkombination „299“, im Todeskampf heimlich an die Wand geschrieben. Kein Mord wie jeder andere, auch deshalb, weil es hier im einen berühmten Großindustriellen geht, der (was 1896 nicht ganz so häufig vorkam) auch noch bei seinen Angestellten sehr beliebt war. Ein Heiliger quasi, wenn man mal von der Fremdgeherei absieht, der sich zusätzlich auch noch für die schönen Künste engagierte – Na da muss natürlich der beste Ermittler ran, den Paris zu bieten hat: Inspektor Broyan. Dummerweise trägt der auch noch privaten Ballast mit sich herum, aber eigentlich ist das auch ein Glücksfall, denn natürlich hängt das letztlich mit dem Mord zusammen... Nun schreit vielleicht gleich wieder irgendwer „Spoiler!!!111einself“ (und da kommt gleich noch viel mehr im Text), aber was will man von einem Kriminalfall erwarten, der eine Vielzahl an Handlungsfäden auf gerade mal 72 Seiten ausbreitet. Da gibt es natürlich die irgendwie auf der Stelle tretende Mordermittlung, welche erst ins Anarchie-Milieu führt und dann ganz woanders hin, weil bei so einem Großindustriellen natürlich ein stattliches Erbe lockt. Vielleicht würden die Ermittlungen ja besser laufen, wenn Inspektor Broyan nicht auch noch seinem privaten Rachefeldzug nachgehen würde? Ein wenig Gesellschaftskritik muss natürlich auch sein. Und dann gibt es noch die seltsam losgelöste Liebesgeschichte einer Muse & Mätresse, die hat natürlich auch was mit dem Mord zu tun, aber vor allem dient sie dazu um ein paar Nacktszenen zu präsentieren – Manche RezensionskollegInnen haben darin eine Porträtierung starker Frauen um die Jahrhundertwende gesehen, naja, das sehe ich ein wenig anders. Frauen sind in diesem Comic viel mehr Opfer, wenn sie nicht gerade übelst heimtückisch sind, aber das würde ich jetzt nicht als „stark“ bezeichnen. Aber okay, mag jede(r) eine eigene Meinung zu haben ;-) Gelegentlich hatte ich beim Lesen der „Konkurrenz“ das Gefühl, dass doch manchmal auffiel, dass der Kriminalfall an sich eher schwach war. Aber dann sah man sich die hübschen Zeichnungen an, was letztlich die berechtigte Kritik überwog und für absurd hohe Bewertungen sorgte. Nun bin ich tatsächlich nicht so leicht zu beeindrucken, weshalb ich hier auch keine Lobeshymnen anstoße. Ja, dieser Comic sieht hübsch aus. Und ja, die Belle Èpoche-Atmosphäre ist definitiv spürbar. Aber zumindest nach meinem Dafürhalten liegt das eher an der tollen Kolorierung, weniger an den Zeichnungen an sich. Denn überraschend oft wirken die Figuren wie Karikaturen, vielleicht liegt das an der Wahl der Perspektive, aber jedenfalls wirkt dieses karikaturhafte nicht gewollt. Und das reißt die Lesenden dann irgendwie aus der Immersion raus, denn es beißt sich mit den vielen anderen Zeichnungen, die wiederum ganz wundervoll sind. Daher mein... Fazit: Alexis Chabert kann zeichnen, er kann sogar noch viel besser kolorieren, aber zu oft scheint ihn hier die Muse zu verlassen. Schade, denn er rettet „Herbst an der Bucht der Somme“ (Link) davor, dass ich hier einen großen Verriss schreibe. Denn die Zeichnungen müssen retten, was Philippe Pelaez verbockt mit einem überraschend generischen Kriminalfall samt blasser Charaktere, der sich für so einen dünnes Büchlein dann doch zu sehr in Nebensächlichkeiten verfranzt. Der ganze Comic wirkt, als wäre die gesamte Geschichte um die Zeichnungen drumherum geschrieben, und das führt letztlich zu Lesefrust.
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