Der renommierte Comic-Verlag „Cross Cult“ (bekam dieses Jahr verdientermaßen eine ganze Menge Blog-Leserpreise :-)) widmet sich nun auch verstärkt der Literatur-Sparte. Mit dem afrofuturistischen Roman „Lagune“ von der mit igbo-nigerianischen Wurzeln versehenen US-Autorin Nnedi Okarafor präsentiert man nun vollmundig den „Roman des Jahres“ (Link) - Na, da bin ich mal gespannt, ob der auch wirklich so gut ist? Die Handlung des in drei Akte aufgeteilten Romans beginnt noch verhältnismäßig geruhsam: Drei einander vollkommen fremde Menschen treffen am Strand von Nigerias Hauptstadt Lagos aufeinander und werden unglücklicherweise von einer riesigen Welle ins Meer gezogen. Diese drei Unglücklichen sind die mit einer Ehekrise kämpfende Meeresbiologin Adaora, der ungehorsame Soldat Agu und der ghanaische Rapper Anthony Dey Craze. Zum Zeitpunkt, als sie im Meer versinken, wissen sie noch nicht, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bilden werden, welche die Zukunft Nigerias und auch der gesamten Menschheit bestimmen wird... Denn das Meer verschluckt sie nicht, sondern spült sie zusammen mit der jungen Frau Ayodele aus. Diese außerirdische Gestaltwandlerin ist die Botschafterin eines vor der nigerianischen Küste versteckten Raumschiffes. Ihr Ziel ist nicht die Unterwerfung, sondern die Unterstützung der Menschheit mit Wissen und Technologie. Doch eine Außerirdische weckt natürlich die Begehrlichkeiten von verschiedensten Interessengruppen (z.B. Gangs, die ein Lösegeld erhoffen; Sekten, die mit ihr die Welt konvertieren wollen; natürlich auch das Militär), sodass die Protagonisten zuvorderst damit beschäftigt sind, ihre neue Begleiterin kennenzulernen, zu beschützen und ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Botschaft zu verbreiten. Doch diese Botschaft wird von vielen missverstanden und es bricht Chaos aus: Nicht nur, dass es Krawalle und Aufstände gibt, auch scheint die Natur verrückt zu spielen und echte oder auch nur vermeintliche Außerirdische werden vom aufgebrachten Mob gejagt und getötet... Vordergründig klingt die Handlung erst mal nach einem "normalen" SciFi-Roman, an welchem höchstens der Handlungsort etwas ungewöhnlicher ist als sonst – Wobei die Phantastik-Elemente eher in Richtung Fantasy gehen: Dass die Nigerianer des Buches eher an eine Meerhexe als als eine Außerirdische denken ist vollkommen nachvollziehbar ;-) Hintergründig nutzt die Autorin diese vom Handlungsbogen eher einfache Geschichte jedoch, um zahlreiche Missstände der nigerianischen Gesellschaft anzuprangern: Religionskonflikte und -missbrauch, Korruption, Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten, Drogenmissbrauch und Umweltzerstörung – All diese ernsten Themen werden von Nnedi Okarafor so geschickt eingewoben, dass sie nicht mit einem erhobenen Zeigefinger schreibt oder den Roman damit auch nur überladen oder überambitioniert wirken lässt. Wirkt er also thematisch nicht überladen, gelingt ihm dies auf erzählerischer Ebene leider nicht immer: Neben der eigentlichen Rahmenhandlung und einiger nachvollziehbarer Schlenker hin zu Nebenfiguren öffnet sie doch auch noch viele sehr kurze Nebenhandlungen, welche zusätzliche und nicht immer notwendige Nebenfiguren einführen und damit von der eigentlichen Geschichte ablenken. Auch bleiben am Ende noch ein paar Fragen offen, die nur eher halbherzig oder gar nicht aufgelöst wurden. Abgesehen von diesen Kritikpunkten zeigt Nnedi Okarafor jedoch, dass sie vollkommen zurecht verschiedene Preise (Link) gewonnen hat, beispielsweise den „World Fantasy Award“, den „Nebula Award“ und erst kürzlich den „Hugo Award“. Denn neben einem gut lesbaren Schreibstil und einer sehr guten und glaubwürdigen Charakterisierung der handelnden Figuren (selbst kleinster Nebenrollen) bietet „Lagune“ vor allem auch eine fast greifbare Atmosphäre. Lagos wird beim Lesen vor dem geistigen Auge lebendig. Dies gelingt ihr durch eine sehr lebendige Sprache, welche durch die Einstreuung vieler typischer nigerianischer Wortfetzen und Redewendungen erreicht wird. Diese werden dankenswerterweise am Ende in einem Glossar erklärt – Wer wüsste sonst, was in Pigdim-Englisch eine „Mumu“ ist? ;-) 18 € verlangt der „Cross Cult“-Verlag (Link) für ein 370 Seiten umfassendes Taschenbuch von guter Druckqualität. Ein durchaus gerechtfertigter Preis für ein sehr gut übersetzten und lektorierten Afrofuturismus, dem es gelang, mich mit seiner Thematik auch nach dem Durchlesen länger zu beschäftigen :-) Ein besonderes Lob möchte ich noch für das wirklich großartige, geheimnisvolle Cover aussprechen! Fazit: Nein, „Lagune“ (Link) ist nicht, wie vom Verlag beworben, „Der Roman des Jahres“ – Aber er ist trotzdem wirklich gut geschrieben und aufgrund der Thematik sehr lesenswert. Absolute Leseempfehlung: 84 % beziehungsweise 4,2 / 5 Sternchen eines großkapitalistischen Onlinehändlers ;-)
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