„Frankenstein oder Der moderne Prometheus“, das erstmals 1818 anonym veröffentlichte faust‘sche Lehrstück von Mary Shelly, gilt als bedeutendes Werk der Horror-Literatur. Ebenso bedeutend ist die 1886 erschienene schottische Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevensons, dessen gespaltene Hauptfigur als eigenes literarisches Motiv Vorbild für zahlreiche Comic-Figuren war – Dr. Bruce Banner beziehungsweise Hulk zählt da wohl zu den bekanntesten und offensichtlichsten Charakteren. Und Comics sind auch schon das Stichwort, denn im zum Jahreswechsel erschienenen „Mister Hyde vs. Frankenstein“ treten diese beiden bedeutenden Horror-Ikonen gegeneinander an. Kann solch eine düstere Mischung überhaupt funktionieren? Bevor die beiden namensgebenden Hauptfiguren in die Geschichte eingeführt werden, lernt der Leser Faustine Clerval kennen. Die attraktive Haushälterin des von der Wissenschaft verlachten Dr. Jekyll tötet bereits auf den ersten beiden Seiten den „Elefantenmenschen“ Joseph Carey Merrick – Und damit ist schon der Grundtenor des an historischen und literarischen Querverweisen nicht armen Buches klar: Sympathische Protagonisten gibt es hier nicht, stattdessen ziehen sich Düsternis und brutale Gewalt durch das 96 Seiten starke Hardcover. Dr. Jekyll ist in diesem Comic mit seinen Forschungen schon weit fortgeschritten: Psychisch angeschlagen und kaum in der Lage, seine Wut zu kontrollieren, unternimmt er immer risikoreichere Selbstversuche. Dabei zeigt er im Verlauf der Geschichte in wachsender Intensität skrupelloses, sadistisches, größenwahnsinniges sowie fremd- und autoaggressives Verhalten. Als nun ein für seine Forschungen wichtiges Serum ausbleibt, unternimmt er zusammen mit Faustine eine Reise zum eingeschneiten Institut Walton, um Nachschub sicherzustellen. Dort trifft er auf den geflohenen Frankenstein, der ein Massaker unter den Institutsmitarbeitern angerichtet hat… Und damit endet die erste Hälfte der zweiteiligen, abgeschlossenen Geschichte. Und auch wenn diese Zusammenfassung natürlich stark gekürzt ist, zeigt sie doch das Hauptproblem des Buches: Das Fehlen jeglicher positiver Protagonisten. Versteht mich nicht falsch, „böse“ Hauptfiguren können faszinierend sein, beispielsweise der Vigilant Rorschach aus „Watchman“, sodass man mit ihnen mitfiebert. Aber solch eine Figur fehlt in „Mister Hyde vs. Frankenstein“ einfach. Am umfangreichsten, auch mit einigen interessanten Rückblenden und Gesprächen beim Psychiater Dr. Freud, wird noch Dr. Jekyll eingeführt. Leider kommen diese wichtigen Abschnitte aber so weit hinten im Buch, dass er bis dahin schon jegliche Sympathie verspielt hat und man fast gewillt ist, lieber Frankenstein die Daumen zu drücken. Aber auch nur fast, denn Frankenstein ist erzähltechnisch noch ärmer dran. Erstens bekommt er generell nur ganz wenige Seiten, und zweitens wird er dann auf seine Rolle als amoklaufende Tötungsmaschine reduziert. Warum er sich am Ende so verhält, wie er sich verhält, bleibt offen… Auch wenn es der Comic-Titel anders suggeriert, ist doch die eigentliche zweite Hauptfigur nicht Frankenstein, sondern Faustine (was auch auf den jeweiligen Covern angedeutet wird). Ihr wird als dessen treue Begleiterin im Comic ähnlich viel Platz eingeräumt wie Dr. Jekyll. Positiv hervorzuheben ist bei ihr besonders, dass sie nicht einfach nur schmückendes Beiwerk ist, sondern auch tatsächlich die Handlung bereichert. Als einziger Charakter macht sie außerdem so etwas wie eine persönliche Entwicklung durch und auch ihre Motivation wird deutlicher als bei den titelgebenden Hauptfiguren herausgearbeitet. Deshalb ist es für das Verständnis des Comics auch enorm hilfreich, die beiden in meiner Einleitung genannten originalen Bücher oder wenigstens die dazugehörigen Wikipedia-Einträge zu lesen ;-) So, jetzt habe ich aber genug gemeckert :-P Jetzt wird es Zeit die positiven Aspekte des Buches! Und da ist zu allererst natürlich die phantastische Atmosphäre zu nennen. Diese wird nicht nur durch die düstere Geschichte erzeugt, sondern zuvorderst durch die großartigen Bilder. Der Zeichenstil ist detail- und kontrastreich sowie durchaus realistisch, die Farbwahl ist im positivsten Sinne bedrückend in grau und braun gehalten. Die Handlung an sich ist, und man muss schon sagen "trotz" der unsympathischen Protagonisten, sehr interessant und man fragt sich bis zum Schluss wie das Duell wohl ausgehen wird... Auch die literarischen und historischen Querverweise gefallen mir sehr. Lobend zu erwähnen ist außerdem die hohe Buchqualität vom „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte). Der Druck ist sauber, die gut lektorierten Texte sind flüssig lesbar und das Übergrößen-Hardcover ist stabil. Der Preis von 19,80 € ist damit als gerechtfertigt anzusehen. Fazit: „Mister Hyde vs. Frankenstein“ ist zuvorderst ein grafisch hervorragendes Comic-Erlebnis. Eine Art Monster-gegen-Monster-Event, welches als literarisches Gedankenspiel und dank seiner dichten Atmosphäre zu gefallen weiß. Die Story und die Charakterentwicklung treten dabei jedoch ein wenig in den Hintergrund, was bei so spannenden Protagonisten schon etwas schade ist und den Lesegenuss schmälert. Wer sich jedoch für eine der beiden Hauptfiguren oder auch Horror allgemein interessiert kann trotzdessen bedenkenlos zugreifen. PS: Wer sich noch nicht ganz sicher ist, findet hier noch weitere Infos (Link).
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