Kennt noch jemand "Thief: The Dark Project", das mittlerweile fast 20 Jahre alte Schleich-Abenteuer-Videospiel? Falls nicht, mal frech Wikipedia zitiert: "Der Spieler übernimmt in diesem Spiel die Rolle des Meisterdiebs Garrett [...] Dabei verfügt er über beachtliche Diebesfertigkeiten, über das Öffnen von Schlössern bis zur geradezu unnatürlichen Fähigkeit, in jedweder Art von Schatten unerkannt zu bleiben." Und dieser Klassiker steht nun Pate für ein interessantes Indie-RPG-Projekt aus deutschen Landen - Dem diesen Blog namensgebenden Stephan wird schon ganz warm im Schlüpper ;-) Hallo Roman. Bevor wir über das Spiel reden: Magst Du Dich den Lesern kurz vorstellen?
"Ich bin Roman, meine Freunde nennen mich Snake, aktuell Bioinformatik-Student in München. Für die „Ah ha!“-Kandidaten da draußen: Das kommt ursprünglich nicht von Solid Snake aus der "Metal Gear Solid"-Reihe, auch wenn ich selbst ein Fan dieser Videospielreihe bin, sondern aus meiner Schulzeit, in der wir uns gegenseitig auf sogenannten LAN-Parties Spitznamen aus dem chinesischen Sternzeichenkalender gaben – ich wurde nämlich im Jahr der Schlange geboren. Auf den Geschmack von Rollenspielen kam ich erst mit 19 Jahren, obwohl ich vorher öfters von Freunden davon gehört hatte. Heute könnte ich es mir ohne schon nicht mehr vorstellen, weil es ein Zeitvertreib ist, der mir im Vergleich zu anderen Aktivitäten den größten Spaß gemacht hat. Was vielleicht noch wichtig ist, ist dass ich ein großer Fan der "Thief"-Videospielreihe bin, wenn man mal von dem 2014er Reboot absieht."
"Thief" ist ja einer der großen Namen der Videospielgeschichte. Magst Du das P&P-Projekt dazu vorstellen?
"Die Spielwelt von "Thief" ist ein düsteres Setting mit einer Zivilisation vom Stand der irdischen Renaissance mit Steampunk-Elementen sowie ein paar Fantasy-Elementen. Es gibt einige bizarre Technologien, götterfürchtige Fanatiker, naturliebende Heiden, geheime Organisationen, und – wer hätte das gedacht – zahllose Diebe. Im Vordergrund steht der Kampf ums Überleben in einer vollkommen heruntergekommenen und korrupten Gesellschaft einer riesigen Stadt. Man kann sich von Anfang an darauf einstellen, dass man mit Nächstenliebe oder ehrlicher Arbeit nicht weit kommt, oder sogar ziemlich schnell alles was man besitzt zu verlieren riskiert. Von dieser ungeschriebenen Regel sind sowie Manufakturarbeiter als auch hochgeborene Gelehrte betroffen. In gewisser Hinsicht geht es daher Streunern und Bettlern besser als den meisten „besser in die Gesellschaft Integrierten“, wenn sie nicht gerade hinter Gittern verrotten. Regeltechnisch baut "Thief P-&-P" rudimentär auf dem generischen System "Savage Worlds" auf. Ursprünglich waren wir sehr nah am Original, sind aber dann wegen recht hohen Ansprüchen schnell abgedriftet. Mittlerweile gibt es zahlreiche Elemente aus anderen, wenn man so will, Systemarten. Für Charakter-Fertigkeiten gibt es vier- bis zwölfseitige Würfel, die die Fertigkeits-Stufe repräsentieren, und jeweils einen Würfelpool (= Anzahl von Würfeln), der die Fertigkeits-Erprobtheit abbildet. Das System an sich ist ein Erfolgssystem wie es in der "World of Darkness" oder "Shadowrun" verwendet wird. Außerdem ist das Würfelergebnis stets nach oben offen, da die höchste gewürfelte Augenzahl immer einen weiteren Würfel zum Pool hinzufügt, und das in der Theorie unbegrenzt."
Unabhängig von den Bezügen zum Videospiel, was macht das System im Vergleich zu anderen Rollenspielen noch besonders?
"Das Besondere an der Spielwelt von "Thief" ist seine außergewöhnliche Atmosphäre, die Charme mit purem Grauen verbindet. Es gibt spannende Kontroversen, die ständig aneinander geraten, es gibt viele zu entdeckende Geheimnisse, und eine ungeheure Spannweite an Möglichkeiten, seine Ideen mit einfließen zu lassen. Ich persönlich finde die Art und Weise, auf welche die Welt von "Thief" sozusagen permanent an der Schwelle zum Untergang steht, sehr reizvoll. Die unwahrscheinlich obskure Kombination aus Spätmittelalterflair, Industrieflair, gelegentlich vorkommender Magie und Fabelwesen, sowie Untoten und Geistern ist einfach – mir fällt keine andere Bezeichnung ein – abgefahren. Unsere Regeln haben einen Schwerpunkt auf Realismus und Abbildbarkeit möglichst vieler Situationen. Ich denke, dass es wenige andere Rollenspielsysteme gibt, die sich darauf konzentrieren. Allerdings brauchen manche Systeme mehr Realismus und ein breites Spektrum an Möglichkeiten, und manche weniger. Wenn man mir an dieser Stelle einen kurz abschweifenden Vergleich erlaubt: "Shadowrun" hätte meiner Meinung nach realistischere Regeln haben können – ich kenne keine "Shadowrun"-Rollenspielgruppe, die nicht mehr oder weniger aus diesem Grund Hausregeln eingeführt hat, um ebendies zu kompensieren. "Vampire The Masquerade" oder "World of Darkness" hingegen haben eine derart abstruse Stimmung, dass die wenigsten Rollenspieler sich über Unrealismus beschweren. Bei Fantasy-Settings wie "Midgard" und "Das Schwarze Auge" allerdings, so finde ich, passt es zum Flair, wenn da leicht andere Naturgesetze herrschen"
Wie kamst Du überhaupt auf die Idee, ein eigenes Rollenspiel zu entwickeln? Und was hat Dich zu diesem speziellen Setting gebracht?
"Es kann nicht die Rede von einem eigenen Rollenspiel sein, da ich die Welt ja nicht erfunden habe, das waren die Jungs von "Looking Glass Studios" und "Ion Storm Inc.", außerdem gehören die Rechte von "Thief" "Eidos Interactive / K. K. Square Enix". Bei unserem "Thief Pen-&-Paper" handelt es sich um eine Adaption, wenn auch eine etwas aufwändigere als es normalerweise üblich ist. Dieses Projekt ist nicht für den Kommerz vorgesehen und wir dürfen unsere Inhalte auch nur auf Zustimmung des Rechteinhabers veröffentlichen. Auf die Frage, wie ich auf die Idee kam, kann ich nur sagen, dass mir der Gedanke an ein "Thief"-Rollenspiel seit meiner allerersten Erfahrung als Rollenspieler im Kopf herumgeisterte. Ich habe immer wieder nach einem "Thief"-Rollenspiel gesucht, doch konnte nichts finden, bis auf eine recht simple aber doch sehr interessante und spaßige Adaption von Andrew Shields ins generische System "Fictive Hack". Letztendlich wollte ich in einer "Thief"-Welt mit deutlich mehr Substanz und Hintergrund spielen, und eines schönen Tages habe ich mich hingesetzt und gesagt: Warum zum Geier entwickle ich nicht einfach selbst eins?"
Hast Du die Regeln gezielt auf das Setting hin entwickelt, oder kamen erst die Regeln und dann Anpassungen an die Spielwelt?
"Es steckt so viel Potential im "Thief"-Universum, dass mir einfach unbegreiflich ist, warum man daraus kein lukratives Merchandise macht. Andererseits gibt es mittlerweile so viele Ideen und Projekte, die meiner Meinung nach unterschätzt werden. Ich habe mich zu diesem Projekt entschlossen, weil es offenbar niemand sonst versucht hat. Ich bin eigentlich ein fauler Mensch – ich recherchiere immer zuerst, ob ich mir nicht irgendeine Arbeit ersparen kann – doch wenn das nicht geht, arbeite ich an der fraglichen Sache umso lieber. Was die Spielwelt und Regeln betrifft, war die Schwerpunkt-Tendenz meistens eher seitens der Spielwelt. Wir haben die Philosophie verfolgt, dass die Regeln nach der Spielwelt gestaltet werden sollten, und nicht andersherum. Leider funktioniert das nicht immer optimal, sodass wir gelegentlich auch von der anderen Seite Anläufe gebraucht haben, bis es mal geklappt hat. Die "Savage Worlds"-Regeln waren ein guter Anhaltspunkt und zweifellos eine Quelle einfacher und robuster Mechaniken, erwiesen sich jedoch zu großen Teilen für unsere Zwecke als ungeeignet"
Da möchte ich gleich mal nachhaken: Plaudere doch mal aus dem Entwickler-Nähkästchen. Wie kann ich mir die Entwicklung eines Rollenspiels so vom Arbeitsablauf und Arbeitsaufwand vorstellen?
"Ich würde sagen, es gibt keinen „einzig richtigen“ Entwicklungsplan, ganz ähnlich der zahlreichen Planungsmethoden in der Softwareentwicklung. In unserem Fall gingen wir zunächst Andrew Shields‘ Adaption durch, um festzustellen, dass sie nicht so ganz unseren Vorstellungen entsprach – diese Bewertung allein kostete schätzungsweise 15 Stunden (das ist übrigens ein Kompliment an Andrew). Man darf auch nicht sagen, dass diese Zeit verloren ging, denn abgesehen von der persönlichen Erfahrung über Rollenspielsysteme, die wir dadurch nebenbei gewonnen haben, wussten wir im Nachhinein mehr über unsere Vorstellungen vom optimalen Regelwerk für "Thief". Als Nächstes verglichen wir diverse generische Systeme und entschieden uns dann für "Savage Worlds". Jeden Meilenstein führten wir neue Regeln ein, erweiterten oder kombinierten vorhandene, vereinfachten oder schafften ältere sogar ab, und entfernten uns damit immer mehr von "Savage Worlds". Ich habe keine Protokolle für unseren Arbeitsaufwand geführt, aber ich würde bis zum heutigen Tage auf etwa 250 gemeinsame Stunden mit meinem Partner Dave schätzen, plus etwa genauso viel in selbstständiger Arbeit. Wären wir mit diesem Projekt vollzeitangestellt, hätten wir die 250 Stunden in etwa 6 Wochen abgearbeitet, aber so wurde die Arbeit eben über zwei Jahre in der Freizeit verteilt. Desweiteren hat die erste Testspielgruppe im Herbst 2014 angefangen, die seitdem etwa alle 3 Wochen begeistert spielt. Diese Jungs und Mädels müssten eigentlich von den sich dauernd ändernden Regeln genervt sein, doch stattdessen haben sie uns mit äußerst produktivem Feedback versorgt."
Was würdest Du zu jemandem sagen, der selbst ein Rollenspiel entwickeln möchte?
"Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Erfolg eines vergleichbar langwierigen Projektes sehr stark von der Nachhaltigkeit der Motivation abhängt. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass ein solches Unterfangen sehr viel mehr Mühen und Herausforderungen und vor allem Zeit in Anspruch nehmen wird, als man anfangs einschätzt. Schade wäre es um den Aufwand, wenn so etwas dann auf Eis gelegt würde. In dem Sinne lautet mein Rat: Bist du bereit, mehr Herzblut zu investieren, als du in Form von Spielspaß zurückzubekommen erwartest? Bei einem „ja“ ist die Chance, es fertigzustellen, signifikant größer als bei einem „ich denke schon“. Und bei einem „nein“ würde ich mein Vorhaben ernsthaft in Frage stellen. An sich ist die Entwicklung eines eigenen Rollenspiels etwas Wunderbares. Es ist ein kreativer Prozess, bei dem sich zu jeder Zeit einer Schnapsidee als etwas Geniales entpuppen könnte. Allein die Aussicht darauf rechtfertigt schon die Mühe."
Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand? Und wie ist die Resonanz der Spieler?
"In Software-Terminologie würde eine „späte Beta“ wohl am besten passen. Abgesehen von Kleinigkeiten bezüglich Balancing, die in den nächsten Monaten noch verbessert werden, ist "Thief P- &-P" zu diesem Zeitpunkt prinzipiell auch für Rollenspiel-Laien spielbereit. Es gibt derzeit 3 PDFs: das Grundregelwerk, die "Chroniken der Stadt" als reines Quellenbuch und die "Mysterien der Stadt" als Quellenbuch mit Meisterinformationen. Allerdings haben wir sie noch nicht veröffentlicht. Sozusagen die Premiere wird auf der "Ilad Galen Con" in Neuburg am 30. Oktober stattfinden, dort wird man in die Bücher reinblättern können. Wir werden die PDFs kurz nach der Con ins Netz stellen. Über die Resonanz der Spieler kann ich nur sagen, dass es sehr gut ankommt. Eine statistische Aussage ist es allerdings nicht, da bisher in einem engen Kreis zu Testzwecken nur etwa 30 Leute "Thief P-&-P" gespielt haben. Welchen Impact es auf die Welt da draußen haben wird, bleibt abzuwarten."
Na dann viel Erfolg! Eine Frage noch: Nach der Veröffentlichung, wie wird die Zukunft aussehen? Kommt noch mehr Material oder gar eine gedruckte Version?
"Wie schon erwähnt wird man sich die PDFs in absehbarer Zeit nach dem 30. Oktober online holen können. Eine gedruckte Version würden wir nur allzu gerne anbieten, jedoch wird es wahrscheinlich nicht dazu kommen, da wir die Rechte von "Thief" nicht besitzen und daher nicht kommerziell werden dürfen. Für die Leute, die so wie ich lieber Papier in Händen halten, und denen unser "Thief P-&-P" gefällt, kann ich nur empfehlen, die PDFs im Copyshop ausdrucken und binden zu lassen. Und wer weiß? Vielleicht wird ja eine Buchausgabe eines Tages möglich sein."
Ich danke für das Interview und verweise gerne jeden Leser, der es nicht bis zum 30. Oktober aushalten kann, auf die "Chroniken der Stadt"-Leseprobe (Link).
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