Dieses Mal zum Interview gebeten habe ich Georg Mir. Der österreichische Autor hat das zweifelsfrei niedlichste Rollenspiel der gesamten Indie-Themenreihe geschrieben und wohl auch das einzige, welches ausschließlich auf englisch veröffentlicht wurde. Hallo Georg! Schön, dass Du für ein Interview die Zeit gefunden hast.
"Servus Philipp! Danke nochmal für dein Interesse. Es freut mich wirklich sehr, wenn jemand über mein Spiel stolpert, und es irgendeine Gefühlsregung auslöst. (Naja, hoffentlich nur positive Gefühle.) Ich versuch mal alles zu beantworten!"
Magst Du Dich den Lesern bitte kurz vorstellen?
"Meine Freunde in der Szene nennen mich Gege. Ich bin mittlerweile Level 32 und wohnhaft in Graz. Ich war eigentlich schon immer ein Träumer, und hab mir verrückte Welten und Geschichten ausgedacht. Es fing alles damit an, dass meine Eltern damals beide berufstätig waren, und ich mich relativ viel selbst beschäftigen konnte. Spielzeug und Spiele waren meine ganze Welt, da mein Vater in seinem Laden neben (Schul-)Taschen und Korbwaren eben auch das ein oder andere Kinderspielzeug führte. Wir besuchten oft Spielzeugmessen und ich kann wirklich sagen, dass meine Eltern meinen Spieltrieb und Wissensdurst immer bestärkt haben. Ich hab zwar auch viel Zeit vor der Flimmerkiste verbracht (und das damals noch englischsprachige Cartoon Network geguckt), aber die Zeit in meinem Kopf war mir immer wichtig."
Eigentlich stell ich die Frage ja immer etwas später, aber Deine hamsterähnlichen Protagonisten sind einfach zu süß: Was hat Dich zu diesem Setting gebracht?
"Ich liebe Tiere und niedliches Zeug. Das war glaub ich schon immer so. Die Michtime sind gemeinsam mit meinem langjährigen Lebensgefährten zusammen entstanden, als ich einen zweiwöchigen Studienaufenthalt in Istanbul zugebracht habe. Um uns über die lange Distanz hinweg trösten zu können, haben wir allmählich angefangen, die Welt der Michtime mit Figuren und Ideen zu füllen. Ein großer Teil der Welt ist dabei noch nicht veröffentlicht, und wird es vielleicht auch nie werden. Mein Ziel war es ja ein Spiel zum Mitgestalten zu kreieren. Da sind harter Kanon und feste Grenzen hinderlich. Obwohl ich DSA durchaus als großes Werk betrachte, war mir der strikte Hintergrund immer zu engmaschig. Als Spielleiter bin ich auch bewusst freier, wenn es um die Auslegung von bestehenden Settings geht (wie z.B. Faerûn). Ich wollte auch bewusst etwas Neues machen. Ausgewachsene Abenteurer sind ja die Standardkost der Szene. Mittelalter? Ja, das auch. Ich finde das auch voll okay so, und es zieht mich auch hin und wieder in solche Welten und Spiele. "Michtim" sollte bewusst eine andere Gangart anschlagen. Übermächtige Gegner (Menschen), die Verschmelzung von Magie und Technik, kleine nagerähnliche Helden? Im Prinzip ist "Michtim" ein Ergebnis aus meiner Liebe für "Zelda", "Kingdom Hearts", "Ewoks", "Shadowrun" und (zu einem gewissen Teil auch) den "Schlümpfen". Ich bin erst später auf die zauberhaft gezeichnete Welt von "Mouse Guard" gestoßen. "Michtim" wird hin und wieder mit dem (auf "Burning Wheel" basierendem) RPG verglichen. Ich denke aber, dass die beiden Spiele nicht viel gemein haben… außer was die niedlichen Charaktere betrifft."
Was macht es - von den süßen Nagetieren mal abgesehen - im Vergleich zu anderen Systemen besonders?
"Ganz klar, die Welt war sowieso zuerst da. Ich hab im Laufe der Jahre (seit 2008) andere Spiele auf "Michtim"-Basis entwickelt. Beispielsweise ein Kartenspiel über das Backen (und Stehlen) von Bocicne. Als ich dann 2011 mit der konkreten Entwicklung des Spiels anfing, war mein erster Gedanke mein karma-basiertes, würfelloses System "GrimOgre Karmic Storytelling" (dämlicher Name, ich weiß) heranzuziehen. Da ich aber auch eine Videospiele-Auskopplung von "Michtim" RPG in Betracht zog, musste doch ein System mit klaren Mechaniken her, die sich auch für den Kampf eignen würden. Einer meiner langjährigen Freunde, Ronald, war damals ganz geschockt von meiner plötzlichen "Kampforientiertheit". Als Spielleiter bin ich eher an Mysterien, Intrige und Socializing interessiert. Kämpfe gibt es schon, aber ein anderer meiner Spieler (Mario), knackt eigentlich jedes System und macht Kämpfen an sich zu einer nebensächlichen Angelegenheit. Man könnte denken, dass mich das stören würde, aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt damit umzugehen, dass er ein absolutes Powergamewunder ist. Ich habe auch erkannt, dass ein Spiel, das absolutes Balancing (und damit eine absolute Gleichwertigkeit aller Optionen) hat, gar nicht immer so lustig ist. Es muss optimale Pfade geben, damit man diese entdecken kann. Warum also den Leuten den Spaß am Charakterbauen und Mechaniken-kombinieren nehmen? Die Idee der Callings kam genau aus diesem Grund. Ich war schon immer ein Fan von Multiclassing, aber die Art und Weise, wie das in D&D passiert, war mir nicht sauber genug. Es war, sozusagen, eine Sonderlösung für eine spezielle Klientel an Spielern. Callings sind von vorne herein dazu gedacht kombiniert zu werden. Jedes Calling bringt eine einzige spezielle Mechanik, die man dann nach Lust und Laune mit anderen Mechaniken verketten kann. Ist das teils unbalanciert? Ja. Aber es macht viel Spaß… und wenn jeder mitmachen kann, ist es auch nicht so ein elitäres Ding, das nur den Hardcore-Powergamern vorbehalten ist. Ich wollte auch Emotionen als Attribute wählen, damit ich eine ganz bestimmte Sache abziehen konnte. Ein Kampfmagier und ein Krieger können beide gleich stark im Kampf sein, aber ihre Attribute werden sich in den meisten Systemen drastisch unterscheiden. Bei "Michtim" ist das ganz anders. Wie du angreifst ist nicht so relevant, wie das Angreifen selbst. Die Emotionen sind eine Möglichkeit verschiedene Rollen in Punkten auszudrücken. Joy 4 und Anger 4 beispielsweise machen einen flinken Angreifer. Fear 4 und Love 4 hingegen einen Kundschafter/Heiler. Dabei ist die Punkteverteilung dem Spieler selbst überlassen. Man entscheidet von vorne herein selbst darüber, was man im Spiel gut können wird. Das System hat auch eine besondere Herangehensweise an Wahrscheinlichkeiten. Mich hat in anderen Spielen (beispielsweise "Dark Heresy") immer gestört, dass ich als ausgebildeter Startcharakter (Assassine mit Stealth usw.) eine extrem hohe Chance des Versagens hatte. Das ist doch kein Spaß. Wenn ich einen Experten in etwas spielen will, dann will ich doch auch Erfolg haben, oder? Wenn die Grundwahrscheinlichkeit so mies ist, dass ich nicht einmal einen schwachen Erfolg erzielen kann, dann ist das meiner Meinung nach kein sehr heroisches Erlebnis. Muss ja auch nicht sein. Vielleicht spielt man ja gerade Lusche: Die Versager. "Michtim" hat eine simple Mechanik Xd6 zu würfeln und in Summe 7 zu erreichen. Das ist das Durchschnittsergebnis für 2d6. Was macht man also jetzt mit den überzähligen Würfeln? Man geht Risiken ein. Spieler entscheiden vor jedem Wurf selbst, ob sie auf Nummer sicher gehen, oder vielleicht ein Wagnis eingehen. Ich will die Macht in den Händen der Spieler sehen. Das sind jetzt einige der Punkte, die mich dazu gebracht haben, für "Michtim" ein eigenes System auf die Beine zu stellen. Ich habe aber schon daran gedacht, das System mit Elementen (Feuer, Schatten, Wasser, Luft…) für ein Spiel über Ninjas auszulegen. Das System ist flexibel und hat ein paar Dinge (wie Mood Marker), die es glaube ich durchaus auch für andere Settings interessant machen."
Wie kamst Du auf die Idee, ein eigenes Rollenspiel zu entwickeln?
""Michtim" (Link) ist nicht mein erstes Rollenspiel. Es hat es allerdings als einziges meiner Spiele geschafft, auch in die Öffentlichkeit zu gelangen. Ich hab schon immer gerne getüftelt… und ich glaube persönlich nicht daran, dass es "das perfekte Spiel" gibt. Alles kann seinen Reiz haben. Ich spiele heute mal "Kult", morgen mal WoD, dann wieder D&D… alle Spiele haben ihren Reiz und jedes mag für seine bestimmte Funktion gut aufgestellt sein. "Michtim" sollte die zauberhafte Welt der Michtime und ihre teils verrückte Sicht der Dinge rüberbringen. Außerdem war es meine Masterarbeit. Ich hatte also das Glück das Spiel im Zuge meines Stipendiums zu entwickeln."
Plaudere doch mal aus dem Entwickler-Nähkästchen. Wie kann ich mir die Entwicklung eines Rollenspiels so vom Arbeitsablauf und Arbeitsaufwand vorstellen?
"Puh! Ich hab relativ viele verschiedene Mechaniken in unterschiedlichen Projekten ausprobiert, und nach etwas gesucht, das leicht zu lernen und interessant zu meistern sein würde. Die Grundmechaniken sind einfach und werden durch weitere Schichten von Regeln erweitert. Es war also ein wichtiger Punkt, die passende Mechanik und die (für Michtim) richtigen Wahrscheinlichkeiten zu finden. Ich bin eines Abends auch neben einer Tabelle gesessen, und habe alle Wahrscheinlichkeiten für 1d6 bis 4d6 mit Modifikatoren von -3 bis +3 ausgerechnet und geschaut, ob mir diese Chancen auch für das Spiel als passend erscheinen. Die Arbeit an den Mechaniken ist also eine Mischung aus Mathematik, dem richtigen Feeling, und der Kombinationen von Regeln, die bestenfalls auch noch eine Geschichte erzählen sollen. Regeln sind aber nur ein kleiner Aspekt des Spiels. Natürlich ist da noch das Setting, das Artwork und das komplette Grafikdesign des Buches. Es hat mir wirklich Spaß gemacht, und ich habe ca. anderthalb Jahre neben dem Studium und der Arbeit als Service Designer an "Michtim" gearbeitet. Einige meiner Erfahrungen habe ich in meinem Blog (jetzt unter der neuen Adresse) www.michtim.com dokumentiert. Dort poste ich auch hin und wieder neue Regeln, Callings oder Setting-Elemente."
Eine Frage, die Du sicher schon häufiger gehört hast: Warum hast Du Dein Spiel auf englisch herausgebracht?
"Ich habe ein Gefühl, dass mehr (deutschsprachige) Menschen Englisch können, als Anderssprachige Deutsch. Ich wollte ein möglichst großes Publikum erreichen, also habe ich alles auf Englisch verfasst. Ich denke aber, dass mein Schreibstil eher einfach gehalten und verständlich ist."
Und wie ist die Resonanz der Spieler?
"Ich habe sicher auch schon schlechte Kritiken erhalten… Zum Beispiel, dass das Spiel zu wenig Setting beinhaltet, oder dass manche Leute nicht recht wissen, was sie überhaupt unternehmen sollten. Das ist natürlich ziemlich niederschlagend für mich… aber man kann es halt nur beim nächsten Mal besser machen. Mein Betreuer (selbst ein Game Designer) hat bei der Diplomprüfung schließlich angemerkt, dass die Tugenden einen zu starken Einfluss auf das Spielen haben. Damit hat er sicher recht. Leider war es da für eine Revision des Regelwerks schon zu spät… Ich werde diese Mängel halt zu einem späteren Zeitpunkt ausmerzen, indem ich neues Material herausbringe. Das hab ich auch schon lange versprochen, aber seit ich arbeiten gehe, bleibt mir leider nicht viel Zeit für "Michtim". Aber ja. Das Spiel hat eine Wertung von 4,7 auf DriveThru, also bin ich schon stolz. Die meisten Reviews waren auch wirklich positiv. Das Spiel soll Leute in eine Traumwelt entführen, die wunderschön ist, aber von der Rücksichtslosigkeit der Menschen bedroht wird. Ich denke, dass es ein paar coole Ideen mitbringt, die man auch für seine anderen Spielrunden heranziehen kann. Ich habe einige Posts auf diversen RPG-Foren gelesen, wo Leute sich besonders für das Emotionssystem (in Kombination mit den Mood Marker Boni/Mali) interessiert haben. Das gibt mir durchaus Kraft weiterzumachen. Wenn ich sehe, dass Leute das Spiel verstehen, bin ich wirklich begeistert. Ich habe keine größere Freude, als wenn jemand seine Erfahrungen mit dem Spiel postet. Ich hab eine Sammlung von Reviews auf www.michtim.com angelegt, die ich mir immer wieder durchlese, wenn ich deprimiert bin."
Wie wird die Zukunft aussehen? Gibt es eventuell eine deutsche Version?
"Davon gehe ich im Moment nicht aus. Leider. Ich arbeite aber schon seit Längerem an einem Kampagnen/Setting-Addon, das sechs (zusammenhängende) Sandboxen vorstellt und auch neue Regeln beinhalten wird. Seit ich Michtim entwickelt hab, habe ich von Honobono (heart-warming) Roleplaying erfahren, und möchte Michtim auch in dieses Genre einordnen."
Ich danke Dir herzlich für die umfangreichen Ausführungen und wünsche Dir weiterhin viel Erfolg!
Tags