Ich bin jetzt 36 Jahre alt und hab damit für meinen Geburtenjahrgang die Hälfte meines statistisch durchschnittlichen Lebens gelebt. Ziemlich frustrierend, wenn man sich gefangen fühlt im ewigen Hamsterrad aus ödem Job und den immer gleichen Gesichtern um sich herum... Und wenn ich schon so jammere, was soll da erst die Protagonistin Josy sagen, die all dies mit ihren 60 Jahren nochmal vielfach schlimmer und vielfach näher am Tod erlebt? Und kann nach diesem persönlichen Winter noch ein Frühling folgen? Josy feiert ihren 60. Geburtstag. Ganz klassisch im Kreis der Familie, mit zwei halbwegs gut geratenen, nur etwas egoistischen Kindern nebst süßen Enkelkindern sowie einem Ehemann, der nun schon seit 35 Jahren an Josys Seite steht. Doch hinter der idyllischen Fassade fühlt sich Josy einsam, traurig und emotional leer, also ob ihr Leben schon vorbei wäre. Also wagt die das Undenkbare: Anstatt zu feiern, steigt sie in ihren VW-Bulli und fährt einfach weg! Auf einem Campingparkplatz kommt zu zur Ruhe, als sie dort die junge Camélia kennenlernt. Auch diese hat sich von ihrer Familie losgesagt, da der Vater ihres Kindes sie mit der Nachbarin betrog. Sie ist es auch, welche Josy in den „Club der befreiten Übeltäterinnen“ einführt, einer zwanglosen Altdamengesellschaft, deren Mitgliederinnen sich allesamt aus dem öden, gleichförmigen Ehe- & Familienleben verabschiedet haben. Schnell findet sie dort Anschluss, sogar mehr als sie dachte, denn mit Christine beginnt sie eine aufwühlende Liebelei. Aber kann sie ihr altes Leben wirklich so einfach wegwerfen? Obschon „Sechszigmal Frühling im Winter“ eine insgesamt mutmachende Empowerment-Geschichte erzählt, ist sie doch insgesamt todtraurig. Josy leidet, und der Szenaristin Ingrid Chabbert gelingt es, die Lesenden an diesem Leid teilhaben zu lassen. Trotzdessen bleibt es eine Momentaufnahme, mehr Rückblicke in ihr frustrierendes Leben und mehr Innenansichten ihrer Gefühle hätten die Identifikation der Lesenden mit der Protagonistin sicherlich noch mehr verstärkt – Obwohl es vermutlich dann irgendwann emotional gar nicht mehr auszuhalten gewesen wäre, ich hab auch so schon an ein, zwei Stellen mit den Tränen kämpfen müssen. Da verzeihe ich der Geschichte auch, dass sie sich so sehr auf Josy fokussiert, anstatt beispielsweise auch aufzuzeigen, wie ihre Familie mit ihrem plötzlichen Verschwinden umgeht. Denn diese kommen nur am Rand vor und sind primär verständnislos und auch wütend – Wie spannend wäre es gewesen, zu ergründen, was das plötzliche Verschwinden der Ehefrau/Mutter/Großmutter mit der „den schönen Schein“ wahrenden Familie macht? Aber dafür ist dieser Comic dann mit 120 Seiten, die man in einem Rutsch durchliest, doch zu dünn. Aber das passt schon, die Autorin will eine reine Josy-Geschichte erzählen, und das macht sie prima. Ebenso prima sind die gefühlvollen Zeichnungen von Aimée de Jongh, welche schon „Das unabwendbare Altern der Gefühle“ (Link) so sehenswert machte. Also schon der Zeichnungen wegen muss man dem „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) dankbar sein, dass er diese emotionale Achterbahn publiziert hat! Fazit: „Sechzigmal Frühling im Winter“ (Link) ist ein gefühlvoll erzählter, sehr trauriger und zugleich mutmachender Comic, der mich zu Tränen gerührt hat!
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