Manchmal habe ich den Eindruck, dass SciFi-Comics – aber auch generell popkulturelle Medien aller Art (z.B. Kinofilme oder Netflix-Serien) – im Verlauf der letzten Jahr(zehnt)e ein wenig ernsthafter und düsterer geworden sind, gleichzeitig aber auch oft ein wenig moderner (im Sinne von diverser oder aber, um das schlimme Wort zu benutzen, „woker“ – Und das obschon gerade in einigen SciFi-Untergenres auch jetzt noch harte Rückzugsgefechte der alten, weißen Gatekeeper-Fanboys geführt werden). Auf ganz unterhaltsame Weise widersetzt sich „Selenie“ diesem Trend, indem er optisch wie inhaltlich längst vergangene Werke der Genre-Klassiker zitiert. Die Erde ist mal wieder komplett zerstört, nachdem ein langwieriger Krieg gegen einen entflohenen Alien-Diktator ins Unermessliche eskaliert ist. Aber hey, das ist nicht das Ende der Menschheit, denn während der nun gar nicht mehr so blaue Planet ganz langsam wieder heilt, verbringen die Überlebenden ihre Zeit auf einer utopisch anmutenden Mondkolonie – Riesige Glaskuppeln, darunter sattes Grün, kristallklare Seen, frisches Obst und fröhliche Menschen. Unter den glücklichen Überlebenden sind auch die titelgebende Selenie sowie Verne & Méliès, welche allesamt von dem Hauslehrer-Androiden Herrn Tatterich betreut werden. Dieser ist zwar überaus fürsorglich, weiß zugleich aber viel mehr über die Geheimnisse der Mondkolonie und auch die Hintergründe der drei ProtagonistInnen, als er jemals zugeben würde – Aber warum? Genau um die Enträtselung dieses Geheimnisses geht es in diesem von Fabrice Lebeault sehr oldschoolig gezeichneten und auch geschriebenen SciFi-OneShot. Dabei kommen die Ereignisse so richtig in Gang, als plötzlich ein Raumschiff von der ja eigentlich zerstörten Erde in der Nähe der Mondkolonie abstürzt. Gegen alle Widerstände brechen Selenie, Verne & Méliès zu einer Erkundungsmission auf – Weiter, als je ein Mensch zuvor den Mond bereist hat, durchqueren sie eine karge Mondlandschaft, die nur so vor Gefahren wie etwa Raubtieren und auch Eingeborenen wimmelt... Am Ende erreichen sie ihr Ziel, doch dort erwartet sie eine Erkenntnis, mit der sowohl sie selbst als auch die Lesenden nicht gerechnet haben! „Selenie“ erzählt ganz und gar klassische Science-Fiction: Eine utopische Welt voller teils unbegreiflicher Hightech-Maschinen, in der wagemutige Menschen ihrem Entdeckungsdrang frönen, während sie zugleich trotzdem mit zutiefst „realweltlichen“ Problemen (etwa politischem Machthunger) konfrontiert sind. Dabei wirkt die Handlung an sich, der gesamte Weltenbau und natürlich auch das Design wie aus einem vergangenen Jahrhundert entnommen – Die Verweise auf SciFi-Klassiker wie etwa Georges Méliès „Reise zum Mond“ und sogar marxistische Theorien sind mehr oder minder deutlich, sodass ich es sofort geglaubt hätte, wenn der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat) auf seiner Webseite geschrieben hätte, dass Fabrice Lebeault die Geschichte bereits vor 100 bis 150 Jahren geschrieben hat ;-) Besonders stark merkt man dies auch im Mindset der Mondkolonisierenden, welche ein sehr stark chauvinistisch-rassistisches Mindset an den Tag legen. Alle Menschen, damit auch die ProtagonistInnen, sind tatsächlich KolonistInnen und verhalten sich auch so – Das Problem ist hier, dass dies als gegeben hingenommen wird, es gibt bis auf eine einzelne Sprechblase keinerlei Einordnung oder gar Reflexion der Geschehnisse. Wobei der gesamte Rest der Menschheit, bis auf eine einzige Figur, durchweg weiß ist – Ein Zufall? Wohl kaum, allerdings muss ich dafür im nächsten Abschnitt einen mitteldicken Spoiler loswerden, daher sollten alle potentiellen KäuferInnen direkt zum Fazit vorspringen! Schon zu Beginn der Geschichte erfährt man, dass das Trio Selenie, Verne & Méliès besondere Fähigkeiten hat, man weiß nur nicht welche. Und jetzt kommt der eigentliche Spoiler: Selenie kann die Welt aus Gründen, die ich aber nicht verrate, nach ihren Vorstellungen formen. Das bedeutet jedoch, wenn man mal drüber nachdenkt, dass die Protagonistin bewusst eine Welt erschaffen hat, welche kolonialistisch, chauvinistisch, rassistisch und (mit einer Ausnahme) absolut weiß ist. Was das über sie aussagt kann man jetzt für sich selbst entscheiden, nach meiner Interpretation macht sie das aber ziemlich unsympathisch... Fazit: „Selenie“ (Link) bietet utopische Science-Fiction aus dem vorletzten Jahrhundert, dies aber konsequent und unterhaltsam. Der altbackene Zeichenstil des Autors und die flächige Kolorierung verstärken diesen Eindruck noch. Ich persönlich fand ihn, auch wenn ich mit der Protagonistin meine Probleme hab, sehr gelungen und gebe daher gern eine Empfehlung ab.
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