Welches Rollenspiel wird auf Conventions wohl am häufigsten angeboten? Vermutlich DSA oder neuerdings D&D. Früher, als ich noch jung und Corona nur ein Bier war, gab es hier in Franken eine Besonderheit: Den Spitzenplatz nahm (zumindest gefühlt) das kleine Indie-System „MILAN“ ein, überall wurde es angeboten. Und nicht nur das, diese Demo-Runden waren auch immer in Rekordzeit ausgebucht! Ein erfolgreiches Crowdfunding später ist „MILAN“ nun in der gedruckten Version 1.1 seit knapp einem Jahr regulär erhältlich. Maßgeblich aus der Feder stammend von den Schwestern Malissa und Tabitha Urban, spürt man hier auf jeder Seite, dass in über eine Dekade massig Herzblut in das System geflossen ist. Andererseits kann das aber auch eine Warnung sein, denn gelegentlich werden bei langjährigen Herzblutprojekten von den AutorInnen die Scheuklappen aufgesetzt und man entwickelt quasi am Rollenspielmarkt vorbei für die eigene kleine Spielgruppe. Ob das hier auch so ist? In „MILAN“ verkörpern die SpielerInnen die sogenannten Milane, eine legendäre, aber streng geheime Söldnertruppe. Über mehrere Jahrtausende hinweg (vom Beginn unserer Jahreszählung bis in die ferne Zukunft) können finanzkräftige AuftraggeberInnen sie anwerben, damit sie das Weltgeschehen ordentlich durcheinander wirbeln – Oder, wie es bei Alternativgeschichtssettings üblich ist, vielleicht genau dafür sorgen, dass ein bedeutendes Geschichtsereignis eintritt. So erfolgreich sind sie dabei einerseits, weil sie mittlerweile komplex organisiert sind (es gibt nicht nur acht verschiedene Fraktionen, sondern auch z.B. einen Verwaltungsapparat und eine Art interne Gerichtsbarkeit inklusive Exekutionskommandos), und andererseits, weil sie sehr viel besser und stärker als normale Menschen sind. Und zu allem Überfluss können sie auch noch zaubern, sodass man in „MILAN“ quasi SuperheldInnenen oder berufsbedingt eher AntiheldInnen spielt. Doch vor dem Start ins Abenteuer folgt natürlich erst einmal die Charaktererschaffung. Die ist im „echten“ Leben (also OT am Spieltisch) zwar nicht so schmerzhaft wie innerhalb des Settings (das erinnert nämlich eher an irgendwelchen Bodyhorror), aber den Kopf zerbrechen muss man sich dann doch :-P Denn so ziemlich alles, etwa die Fraktionszugehörigkeit (bietet passive Fähigkeiten und jeweils sechs Zauberspruch-Ausbaustufen), der Beruf und sogar die Dauer des „Aufwachsens“, verändert die Startwerte des Charakters. Wobei hier bereits das „MILAN“-Powerlevel gut dargestellt wird, denn selbst das schwächste Attribut ist hier noch höher als das beste Attribut eines Normalo-Menschen. Dazu kommen noch die Milan-Attribute, Sprachkenntnisse und mehrere Dutzend Talente – Der Charakterbogen, obschon er nur zwei Seiten umfasst, ist also bereits zum Start gut gefüllt mit Informationen ;-) Die eigentlichen Spielregeln sind dafür recht einfach gehalten, im Prinzip muss man nur gleich oder unter dem Attributswert würfeln. Milane machen das mit einem W20, Menschen dagegen mit einem schnöden W6. Aber natürlich gibt es auch allerlei Sonderregeln & Modifikatoren, die sich dann teils auch noch hinter irgendwelchen Rechenformeln verstecken, aber theoretisch passen die grundlegenden Spielmechanismen auf eine DIN-A4-Seite (so geschehen auf Seite 165, also mitten im Buch, was trotz Lesebändchen eher ungünstig platziert ist). Wobei man hier doch merkt, dass das System ein paar Jahre auf dem Buckel hat, denn viele Regelmechanismen hätte man sicher eleganter lösen können. Und damit meine ich eben nicht nur die Rechenformeln (da hab ich woanders schon viel schlimmere Sachen gefunden ;-)), sondern auch das Spielbalancing: Denn manche Fraktionen haben bereits krass mächtige, aber irgendwie doch ganz okaye Zaubersprüche, andere dagegen sind (wemm die hier „Meister“ genannte Spielleitung nicht korrigierend eingreift) krass overpowered. Um mal einen populärkulturellen Vergleich anzubringen: Manche sind „nur“ Deadpool, andere dagegen sind der behandschuhte Thanos... Sehr gelungen ist die Ausarbeitung der Milan-Organisation. Allein die Fraktionsvorstellung umfasst gut 60 Seiten, dazu kommen für die einzelnen Hierarchieebenen, Berufsbilder, Verwaltungsstrukturen und etwas Geschichte nochmal um die 40 Seiten. Dazu addieren sich noch gut zwei Dutzend Seiten mit den Regeln, sodass man sich recht einfach zusammenreimen kann, dass dann bei einem 184 Seiten starken Regelbuch nicht mehr viel Platz übrig bleibt für den Rest, den man zum Spielen braucht. Gerade weil hier eine so große Zeitspanne abdeckt, hätte ich mir viel mehr Informationen zu möglichen NSCs & Feinden, zu möglichen Story-Ideen und generell zu den Epochen gewünscht. Okay, bei Vergangenheitssettings geht auch ein handelsübliches Geschichtsbuch, aber man muss ja auch mal an so unkreative Spielleitungen wie mich denken ;-) Das wird vermutlich auf die angekündigten Abenteuer ausgelagert, aber schade ist es schon, weil ich so noch keine wirkliche Vorstellung davon habe, was ich denn da jetzt wirklich spiele... Gerade das Einstiegsabenteuer hilft da überhaupt nicht weiter, denn das ist nur ein kurzer, unspektakulärer Dungeon-Crawl. Und nun muss so eine Art von Abenteuer ja nicht schlecht sein – bekanntermaßen liebe ich so etwas – aber ich bin da doch eher verwirrt, dass es ca. 130 Jahre in der Zukunft spielt, das gesamte Setting (inklusive der Waffen) aber, ausgenommen zweier Roboter, komplett aus der Jetztzeit stammt. Ich wage jetzt mal die steile These, dass das durchaus von den Entwicklungsscheuklappen kommt, denn wenn man über eine Dekade an so einer Spielwelt arbeitet, dann weiß man ja natürlich ganz genau, wie das Setting aussieht und wie man es der Spielgruppe präsentieren muss. Nur ich als Rezensent weiß das halt nicht :-( Hier hätte man vielleicht auch ein wenig mit den Zeichnungen arbeiten können, etwa indem da die Milane vielleicht mal in historischen Szenen agieren, aber diese Chance wird leider vertan. Tabitha hat übrigens selbst gezeichnet, und ich lehne mich hier mal aus dem Fenster und behaupte, dass man ihren Entwicklungsfortschritt über diese lange Zeit deutlich sehen kann :-) Gut gelungen ist das Lektorat, das Layout dagegen hätte noch etwas Optimierungspotential gehabt; denn dass manche Textstellen farbig hinterlegt sind, sodass man sie eher für eine gesonderte Infobox hält, verwirrte mich nämlich gelegentlich. Aber nichtsdestotrotz, für ein kleines Zweifrau-Projekt (welches mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) ist „MILAN“ überraschend professionell gelungen, daher können Indie-Fans gern mal die 35 € für das Hardcover investieren. Fazit: „MILAN“ (Link) ist ein sehr solides Powergaming-Rollenspiel und man merkt durchaus den langen Entwicklungszeitraum – In positiver wie in negativer Hinsicht. Da aber im Endeffekt die positiven Aspekte überwiegen, bin ich sehr neugierig darauf, mal eines der offiziellen Abenteuer zu spielen – Ob da die Informationslücken aufgefüllt werden?