Graphic Novels sind in den allermeisten Fällen – völlig zu Unrecht – ja doch eher ein Nischenthema. Wenn also nicht nur die üblichen Blogs & Podcasts darüber berichten, sondern sich auch das öffentlich-rechtliche Kulturradio (mehrfach, z.B. hier (Link) und hier (Link)) mit Lob überschlägt, dann sollte man als Comic-Fan auf jeden Fall neugierig werden... Die Schriftstellerin Anaïs Nin kann man zweifelsohne zu den Pionierinnen der expliziten erotischen Literatur zählen. Die Kurzgeschichtensammlung „Das Delta der Venus“ machte sie ebenso berühmt wie ihre Tagebücher, welche sie bereits als Kind zu schreiben begann. An eben jenen Tagebüchern, oder zumindest einem Teil davon, hangelt sich die Künstlerin Léonie Bischoff in ihrem 192 Seiten dicken Mammutwerk entlang. Sie zeichnet mit sanften Vierfarbbuntstiften die Selbstfindung einer Autorin nach, die es allen recht machen will und sich zunehmend auch sexuell entfaltet. Dabei sollten sich die LeserInnen jedoch nicht von den poetischen Zeichnungen irritieren lassen, denn hinter der hübschen Fassade tun sich emotionale Abgründe auf... Die Erzählung beginnt in Paris der 1920er Jahre: Anaïs ist glücklich verheiratet, sexuell und kreativ jedoch unbefriedigt. Ihre Tagebücher verschaffen ihr Ablenkung, doch erst eine Affäre mit dem Autor & Maler Henry Miller beginnt den schriftstellerischen Knoten zu lösen. Da sie generell immer schwer „Nein“ sagen kann und zudem auch die kreativen Früchte ihrer Liebeleien sieht, startet sie nach und nach immer mehr erotische Abenteuer, beispielsweise mit ihrem Psychotherapeuten und sogar ihrem Vater! Und ja, solch eine Inzest-Episode ist beim Lesen schwer zu ertragen, gerade weil Anaïs dies fast schon als „normale“ Affäre abtut. Generell gibt es einige moralisch kritische Passagen, bei der die Protagonistin als mindestens ambivalent anzusehen ist – Das mag vielfach biografisch sein, das mag sie persönlich in ihrer Selbstfindung & Emanzipation sogar weitergebracht haben, aber letztendlich musste ich bei ihrem Verhalten sehr oft an den Spruch „Kann man so machen, ist dann halt Kacke“ denken. Immerhin sieht das alles wirklich schön aus. Das ist dann zwar nicht erotisch, so wie manche anderen RezensentInnen meinen (ich rufe hier gern noch einmal so Stichworte wie „Inzest“, „Heilung Schwuler durch Heterosex“ & „sexuelle Übergriffe“ in Erinnerung – Nichts davon kann jemals erotisch sein!), aber in seiner poetischen Kreativität doch beeindruckend. Und so kann ich verstehen, warum eben auch etablierte Kultur-Medien über diese Graphic Novel berichten, denn hier gibt es sehr viel zu bereden. Zweifelsohne war es vom „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) eine gewagte Entscheidung, so ein schwieriges Buch über eine eher mittelbekannte Autorin zu veröffentlichen (sind wir ehrlich, wer kannte Anaïs Nin vorher?), aber aus Sicht eines Comic-Fans, der sehr gern über den Inhalt von Geschichten diskutiert, war es definitiv die richtige Wahl ;-) Fazit: Die Graphic Novel „Im Meer der Lügen“ (Link) ist, trotz der teils sehr schwierigen Themen und einer hochgradig zweifelhaften Protagonistin, eine beeindruckende und lesenswerte Comic-Umsetzung von Anaïs Nins Tagebüchern.
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