Das zweite Corona-Jahr endet langsam. Und wenn es uns irgendwas gezeigt hat, dann, dass selbst die größten SelbstüberschätzerInnen an einer Infektion sterben können... Was für eine bemühte Überleitung, aber doch irgendwie passend, denn im Comic „Murr“ muss sich ein furchtloser Schurke der eigenen Vergänglichkeit stellen.
Murphy a.k.a. Murr ist ein echter WildWest-Schurke, der sich schon als Schulkind dadurch auszeichnete, dass er immer Ärger machte und sich nichts sagen lies. Mit einer erschreckenden Grausamkeit ausgestattet war es dann auch nur logisch, dass ihm bei der Berufsberatung der Karriereweg des Banditen empfohlen wurde. Und mit einer maßlosen Selbstsicherheit lebt er seinen Traumberuf: Todesduelle, Schummeleien beim Kartenspiel, verheiratete Frauen vernaschen... Aber irgendwann ist jede Glückssträhne vorbei! Beim trauten Stelldichein mit der Gattin des Sheriffs erwischt, droht dem gesuchten Bösewicht der Tod durch den Strang. Doch noch ein letztes Mal wendet sich das Blatt für ihn, denn der vorbeikommende Tod will nicht seine Seele, sondern die seines Pferdes. Nochmal alles gutgegangen? Nur fast, denn dieses Nahtoderlebnis verunsichert Murr. Plötzlich geht er jedem Duell aus dem Weg, auch das Betrügen beim Kartenspiel traut er sich nicht mehr. Denn der personifizierte Tod stand zwar schon immer direkt hinter ihm, doch erst jetzt nimmt er ihn wahr. Aber wie soll man dann die Karriere als Bandit fortsetzen? Mit einem Tauschhandel, der Murr erneut an seine Grenzen bringt: Angst wird durch Liebe ersetzt. Doch auch die für ihn neue Emotion bringt kein Glück...
Es gibt wenige Comic-Kurzgeschichten (wobei das Hardcover dank 118 Seiten gar nicht so kurz wirkt, aber der Textanteil ist recht gering), welche mich mit ihrem zentralen Story-Twist so sehr begeistern können. Denn am Anfang überwogen die negativen Emotionen, da Murr direkt zu Beginn als psychopathischer Bösewicht dargestellt wird. Wie soll man für so einen Protagonisten irgendetwas anderes als Abscheu empfinden? Wie soll man mit ihm mitfiebern? Und doch gelingt der Comic-Autorin Josephine Mark genau dieses Kunststück, denn die neu entdeckte Emotion der Liebe (welche das Banditenleben ebenfalls negativ beeinflusst) und die deshalb auch empfundenen „Folgeemotionen“ wie Verlustangst und Trauer lassen die Lesenden zur Hauptfigur eine ambivalente Beziehung aufbauen. Zudem gibt es immer wieder kleine Schmunzelmomente und auch manchmal Popkultur-Referenzen, was der insgesamt doch bedrückenden Geschichte ihre Schwere nimmt. Auch die von der Autorin stammenden Zeichnungen haben daran ihren Anteil, denn sie transportieren mit sehr wenigen, aber prägnanten Strichen die jeweiligen Emotionen. Also insgesamt ein wirklich feiner WildWest-Comic, den der „Zwechfell Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) für 15 € im Portfolio hat.
Fazit: Selten hat mich das Schicksal einer so unsympathischen Hauptfigur so sehr berührt wie in „Murr“ (Link)!