Ich will jetzt nicht wieder damit anfangen, dass der „Splitter Verlag“ sein Selbstverständnis „Comics für Erwachsene“ konsequent umsetzt, das hab ich letztens erst gemacht. Aber ich glaube schon, dass es in Deutschland nur wenige „große“ Comic-Verlage gibt, die solch schwere, erdrückende, kapitalismuskritische Geschichten publizieren wie beispielsweise „Die Zeit der Wilden“ – Einer Comic-Adaption von Thomas Gunzigs leider nicht in Deutschland erhältlichen Werk „Das Survivalhandbuch für Unfähige“. Geschrieben und gezeichnet wurde der mit 272 Seiten mächtige Comic von Sébastian Goethas, der mit dem guten Antikriegscomic „Die Reise des Marcel Grob“ (Link) und der herausragenden Stasi-Fußball-Mischung „Das Spiel der Brüder Werner“ (Link) bewiesen hat, dass er es versteht, komplexe Figuren in allerlei Grauschattierungen (sowohl inhaltlich als auch zeichnerisch) darzustellen. Meine Erwartungen waren also hoch und ich will hier schon mal das Ende vorweg nehmen: Wahnsinn, was der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) hier für ein radikales Meisterwerk in sein Portfolio aufgenommen hat! Martine Laverdure ist eine einfache Supermarktangestellte, doch da sie an der Kasse hinter der vorgegebenen Leistungsnorm zurückhängt, soll sie unter einem fadenscheinigen Grund gefeuert werden. Der antriebslose Sicherheitsmitarbeiter Jean, der in einer freudlosen Ehe feststeckt, übernimmt die undankbare Aufgabe und deckt eine belanglose, aber verbotene Liebelei zu einem Kollegen auf. Bei der anschließenden Konfrontation kommt es zu einer Auseinandersetzung, in deren Folge Martine von Jean tödlich verletzt wird... Die Supermarktkette will das natürlich unter den Tisch kehren, aber Martines vier Söhne – Schwerkriminelle mit Wolfsgenen – wollen Rache. Die verläuft anfangs aber nicht wie geplant, denn anstatt Jean zu töten, haben sie plötzlich Jeans überehrgezige, eiskalte Ehefrau an der Backe. Und die ist der festen Überzeugung, dass Jean sie mit der Supermarkt-Sicherheitsleiterin Blanche betrügt, welche zu Jeans Schutz vor dem Wolf-Quartett abgestellt wurde. Deswegen beginnt sie eine Affäre mit dem Leitwolf und unterstützt die Gruppe sogar aktiv bei der Rache... Also eine ziemlich verzwickte, verschachtelte Geschichte voller moralischer Grautöne, die Sébastian Goethas hier zu Papier gebracht hat. Vielen Dinge sind hier bemerkenswert, beispielsweise das grundlegende Szenario, welches unsere vermeintliche Gegenwart mit der Nutzung von DNA-Manipulationen vermischt, in der es normal ist, seinem Nachwuchs mit ein paar Tier-Genen aufzupeppen (was übrigens im Verlauf des Comics erst recht spät erklärt wird und so für etwas Verwirrung sorgt ;-). Als besonders mutig, aber natürlich auch realistisch, empfand ich da Fehlen einer echten und idealerweise auch noch positiven Hauptfigur. Stattdessen teilen sich viele verschiedene Charaktere das Rampenlicht, wobei keine davon als Identifikationsfigur taugt. Klar, die schwerkriminellen Wölfe sind unsympathischer als der unglückliche Taugenichts Jean oder als die engelsgleiche Blanche, die nur ein angepasstes Rädchen im Getriebe des Kapitalismus ist; aber da ist wohl niemand dabei, dem man in den verschiedenen Konfrontationen (die zwar nicht grafisch, aber inhaltlich ziemlich hart sind, etwa ein Amoklauf im Supermarkt und mehrfach misogyne Gewalt) jetzt wirklich die Daumen drücken würde. Stattdessen schaut man quasi als distanzierte(r) BetrachterIn mit ungehemmten Voyeurismus auf die mitunter textlastige, aber durchweg spannende Handlung. Nun möchte ich „Die Zeit der Wilden“ nicht als dezidiert linkes Buch klassifizieren, die Problematisierung des Kapitalismus ist jedoch deutlich erkennbar, manchmal wird sie sogar mit dem Holzhammer auf die Lesenden eingedroschen. Das will ich hier gar nicht als Kritik verstanden wissen, im Gegenteil, denn diese Problematisierung geht zugleich mit einer Emotionalisierung und auch inneren Radikalisierung der Lesenden einher: Noch während der Lektüre hatte ich das innere Bedürfnis, in die APPD einzutreten und einen Wahlwerbespot zu drehen, den die ARD als jugendgefährdend ablehnt (Link) :-D Und das Auslösen vergleichbarer Gefühle hat noch kein Comic geschafft, nicht einmal die im Vergleich so viel braveren „Die alten Knacker“ von gleichen Verlag. Also ein wirklich toller Comic, vom Autor höchstselbst auch sehenswert gezeichnet, da kann ich nur eine Empfehlung abgeben! Fazit: „Die Zeit der Wilden“ (Link) ist durchaus schwere, aber sehr lesenswerte Comic-Kost! Höchst empfehlenswert!
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