Wie minimalistisch darf eigentlich ein Regelsystem sein, damit es noch als „richtiges“ Rollenspiel gilt und nicht einfach nur als Improvisationstheater? Sicherlich eine provokante Frage von jemandem, der mal ein preisgekröntes „Taktik-RPG“ (Link) entwickelt hat, das lediglich per Münzwurf entschieden wurde ;-) Aber umso interessanter war für mich die Spielmechanik der frisch ins deutsche gecrowdfundeten 2. Edition des Fantasy-Rollenspiels „Tiny Dungeon“: Hier bauen allerlei sinnvolle Optionalregeln auf ein sehr minimalistisches W6-Grundsystem auf. Und dann sieht alles das auch noch ziemlich süß aus :-) Die 2. Edition von „Tiny Dungeon“ ist ein tendenziell simples Fantasy-Rollenspiel, welches nicht „die eine“ Spielwelt besitzt, sondern welches mit verschiedensten Szenarienvorschlägen daherkommt. Quasi wie das berühmte „Savage Worlds“, nur halt noch viel einfacher: Bei einer Probe werden zwei sechsseitige Würfel geworfen, zeigt einer am Ende eine 5 oder 6 an, ist das ein Erfolg. Hat man einen Nachteil, darf man nur mit einem Würfel würfeln; hat man einen Vorteil, sind es drei Würfel. Vor- und Nachteile bekommt man aus bestimmten Charaktermerkmalen, beispielsweise wenn man eine bestimmte Waffe meisterlich führt; und im Zweifelsfall schlägt der Nachteil den Vorteil, wenn man es sich nicht gerade um einen magischen Gegenstand handelt – That's it :-D Also vom Grundprinzip her wirklich so simpel, dass die gesamten Regeln auf dem A5-Spielleitungsschirm auf eine Seite passen. Hier das Beweisfoto: Im Kampf gibt es eine der wenigen Ausnahmen des üblichen Regelmechanismus: Für die Bestimmung der Initiative würfel man zwar auch zwei Sechsseiter, hier werden die Ergebnisse jedoch zusammengezählt, damit man dann nacheinander von der höchsten Summe beginnend seine Kampfaktionen durchführt. Bei Initiative-Gleichstand haben SpielerInnen gegenüber Monstern Vorrang, bei gleicher SpielerInnen-Initiave muss man sich halt einigen oder nochmal gegeneinander würfeln ;-) Ist man dann endlich an der Reihe, darf man zwei Aktionen durchführen:
- Angreifen: bei erfolgreicher Probe macht man je nach Waffe 1 – 2 Punkte Schaden - Ausweichen: bis zum nächsten eigenen Zug darf man versuchen mit einer Nachteil-Probe einen Angriff abzuwehren - Bewegen: je nachdem, wie man spielt, darf man sich 7,5 Meter / 25 Fuß oder eine Entfernungszone bewegen - Konzentrieren: bei der nächsten Angriffsprobe reicht schon eine 4+ als Erfolg - Probe auf sonstige Aktionen und Fähigkeiten wie z.B. Schleichen, Verstecken & Suchen
Auch der Kampf ist also regeltechnisch nicht sehr kompliziert – Gerade auch, weil das Schadensmanagement überaus simpel ist, da es nur drei Waffenkategorien gibt: Leichte Nahkampfwaffen wie Kurzschwerter werden einhändig geführt (und zwar, der Name sagt es bereits, auf nahe Reichweite von 1,5 Metern / 5 Fuß) und verursachen einen Schadenspunkt. Schwere Nahkampfwaffen wie Hellebarden werden mit zwei Händen geführt und verursachen zwei Schadenspunkte, allerdings darf man sie nur 1x je Runde einsetzen. Immerhin darf man sie nicht nur im Nahkampf einsetzen, sondern mit Proben-Nachteil auch auf kurze Reichweite (3 Meter / 10 Fuß). Für den Fernkampf auf nahe oder lange Reichweite (wenn das Ziel nicht in Deckung ist und mit Proben-Nachteil auf auch auf nahe Entfernung) nutzt man entsprechend Fernkampfwaffen wie Bögen und Armbrüste, welche allerdings eine Aktion für das Nachladen verbrauchen. Dafür geht „Tiny Dungeon“ der Einfachheit davon aus, dass man immer genug Munition dabei hat :-) Wobei ich hier bei der Waffenbeschreibung schon einen weiteren Kern des System angeteast habe: Optionale Regeln! Denn man kann entweder (beispielsweise auf einer Battlemap) penibel die Entfernung zum Gegner abzählen oder abmessen, oder aber man definiert Entfernungen einfach optional über Zonen. Beispielsweise sind dann alle Monster, die da drüben rumstehen, in der nahen Zone, auch wenn eines davon eigentlich einen Meter näher dran steht als der Rest. Sollte man dann mal getroffen werden, zieht man einfach die entsprechende Anzahl an Schadenspunkten (also zumeist 1, selten 2) von den aktuellen Trefferpunkten ab, bis man dann bei null Trefferpunkten tot ist. Immerhin darf man selbst oder jemand anders in diesem Fall noch versuchen, mittels einer Widerstandsprobe die 0 wieder auf eine 1 anzuheben. Klappt das nicht, war es das dann auch schon mit dem Charakter... Was aber nicht so schlimm ist, denn die Charaktererschaffung geht flott von der Hand:
1. Zuerst wählt man ein Vermächtnis, daher welches Volk man spielt. Hier gibt es acht mehr oder minder klassische Völker (neben beispielsweise Mensch, Fee & Zwerg stehen auch Baumwesen zur Auswahl), die verschiedene Trefferpunkte und Fähigkeiten mitbringen 2. Dann entscheidet man sich für drei der vierzig Standard-Merkmale (z.B. ob und wie man zaubern kann), wobei manche Merkmale jedoch nur Sinn machen, wenn man auch die entsprechenden Optionalregeln nutzt (z.B. nützt die Reparaturfähigkeit des Schmieds nur etwas, wenn man die Verschleiß-Regeloption nutzt) 3. Danach wählt man die Waffenkategorie, mit der man vertraut ist, sowie den Waffentyp, den man gemeistert hat (z.B. man ist mit allen Fernkampfwaffen vertraut und davon hat man dann die Ninja-Wurfsterne gemeistert) 4. Zuletzt sucht man sich noch eine Ausbildung und eine Überzeugung (und optional eine superdupertragische Familiengeschichte), die in manchen Situationen nach Spielleittungsgusto einen Proben-Vorteil bieten können
Tja, das war es dann aber auch wirklich mit den Grundlagen. Denn alles, was dann kommt, ist optional. Das fängt bei Prestige-Merkmalen an, geht über Tiergefährten und veränderte Schadensregeln (z.B. kritische Treffer) bis hin zu diversen Magie- & Nahkampftechniken. Zugegeben, alles interessant, aber dann hat man plötzlich doch wieder ein „ganz normal komplexes“ Rollenspiel, welches eben nicht mit rasch abhandelbarem Regel-Minimalismus bezaubert... Aber selbst wenn man all diese Optionalregeln nutzt, ist man bisher gerade mal auf Seite 50 von 208 gelandet. Es folgt ein knapp 30 Seiten langer Abschnitt für die Spielleitung, der zwar einen kurzen Einführungstext und ein paar Zufallstabellen enthält, der primär aber eine Ansammlung von Monstern ist. Hier gibt es eine ganz ordentliche Auswahl von Standardgegnern (Kultisten, Ritter, Skelette, Wölfe etc. und natürlich Drachen) und eine überraschende Menge an Dinosauriern. Sehr cool! Jetzt sind immer noch rund 120 Seiten übrig – Und da kommen wir zum Herzstück des Grundregelwerks: Den Mikroszenarien! „Tiny Dungeons“ ist zwar Fantasy, aber eben nicht genau festgelegt, was für Fantasy: Von asiatischer Tier-Wuxia-Kampfkunstaction über konkurrierende Adelshäuser im „Game of Thrones“-Style (inklusive Optionalregeln für Massengefechte) bis hin zu Luftschiffpiraten werden hier 23 teils arg abgedrehte Szenarien vorgestellt. Diese Vorschläge sind immer nur ein paar Seiten lang und daher eher grob gehalten, dafür gibt es ab und an auch mal ein paar spannende Optionalregeln. Als Spielleitung muss man aber doch etwas Vorarbeit investieren, sodass „Tiny Dungeon“ zumindest in dieser Hinsicht eher nicht für Rollenspiel-Neulinge geeignet ist... Im Gegensatz zu den SpielerInnen, die können hier dank der simplen Grundregeln wirklich problemlos ihre ersten Spielerfahrungen sammeln :-D Das 208 Seiten starke Hardcover-Regelwerk liest sich flott weg und ist in den meisten Fällen auch gut verständlich, zudem sieht es dank der hübschen Zeichnungen sehr knuffig aus. Der Preis von 29,90 € geht da im Hinblick darauf, dass es vom Kleinstverlag kommt, völlig in Ordnung. Zeitgleich mit der Veröffentlichung des Grundregelwerks hat „Obscurati Publishing“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellten) auch noch ein paar ebenfalls im Crowdfunding mitfinanzierte Ergänzungen herausgebracht (u.a. spezielle Würfel und Spielkarten für Artefakte & Widersacher), von denen ich gerade für Neulinge und/oder Con-Runden die Spielmappe mit Spielleitungsschirm, fünf vorgefertigen Beispielcharakteren und 50 Blanko-Charakterbögen als sehr hilfreich betrachte. Fazit: Die zweite Edition von „Tiny Dungeon“ (Link) bietet ein minimalistisches, aber gut funktionierendes Regelsystem und äußerst kreative Beispielsszenarien. Gerade für den kurzen Zock zwischendurch, beispielsweise auf einer Con-Runde, taugt das Grundregelwerk hervorragend :-)