Vor knapp über 2 Monaten fragte ich in der Einleitung meines „Simak“-Verrisses (Link), wie viel denn gute Zeichnungen bei einem Comic retten können, wenn die Handlung nix taugt? Die Frage stellt sich nun auch bei der retro-futuristischen Dystopie „Nathanaëlle“, die zeichnerisch eine echte Augenweide ist... In der Zukunft ist die Menschheit in zwei Fraktionen aufgeteilt: Die einen wohnen in unterirdischen Containern, da sie glauben, dass die Oberwelt durch einen Virus unbewohnbar sei. Doch das ist eine Lüge, denn die anderen wohnen dort in einem technokratischen Polizeistaat, dem auch Transhumanismus nicht fremd ist. Beispielsweise ist die heimliche Hauptfigur Melville nach seinem biologischen Dahinscheiden nun ein Kaffeevollautomat auf zwei Beinen, dessen neues Roboter-Dasein sein Familienleben merklich schwieriger gestaltet. Und das wird dann auch nicht einfacher als er eine junge Frau findet und heim bringt, die angeblich ein tödliches Virus in sich trägt: Nathanaëlle, die neugierig ihren unterirdischen Schutzcontainer verlassen hat. Rasch ist den beiden der gesamte Polizeistaat auf den Fersen, denn der elitäre Regierungsrat (der sich gerade mit der Wiederwahl seines eigensinnigen Staatspräsidenten Tabor herumschlägt) hat Nathanaëlle vor langer Zeit dort unten eingesperrt, da sie immer nur Ärger macht und die bestehende Ordnung in Frage stellt... Tja, und das war es im Prinzip auch schon: Nathanaëlle wird von Melville gefunden, dann müssen die beiden fliehen, es gibt allerlei Verfolgungsjagden (inklusive gleich zweifacher Deus ex machina-Rettung) und ein klein wenig Revolution, während der sich seiner Wiederwahl stellende Staatspräsidenten mit seinem Status als Universalgelehrter rumflext... Letztlich handelt es sich hier eher um eine mal recht flüssig, mal arg rumpelige Aneinanderreihung von teils durchaus gut inszenierten Einzelszenen – Im Vorwort erzählt der Autor Charles Berberian sinngemäß, dass ihn sein Zeichner Fred Beltran nach einem dreitägigen Festival mal völlig übermüdet fragte, ob er nicht noch eine Kurzgeschichte im Hinterkopf hätte, weil er rasch eine bräuchte. Und genau so wirkt „Nathanaëlle“ dann auch: Übermüdet, aber energiegeladen ein paar Ideenfetzen zu einer Handlung geformt; aber dann ohne tiefere Gedanken für ein schlüssiges Ende oder auch nur eine interessante Protagonistin. Denn gerade an diesen beiden Handlungselementen krankt „Nathanaëlle“: Nach 80 Seiten ist urplötzlich Schluss, ohne dass man das Gefühl hat zu verstehen, was der Autor uns damit eigentlich sagen will oder was für eine Art Geschichte er uns vermittelt. Nathanaëlle tritt, und das ist jetzt ein kleiner Spoiler, sozusagen die Revolution los und wird gleich in deren Anfangsphase von einer (Widerstands?)Gruppe in ein verstecktes Dorf gebracht, wo sie von ihrem Vater träumt. Ende. Und nun? Was soll mir dieses Ende sagen? Muss ich jetzt selbst viel hineininterpretieren? Das wäre an sich nun kein Problem, das mach ich ja gern, aber dann muss mir der Autor auch ein paar Story-Knochen mehr hinwerfen... Auch nach 80 Seiten kenne ich Nathanaëlle nicht und die dystopische Welt ist mir weitestgehend fremd geblieben (geringfügig hilft da der Bonusteil mit den Konzeptzeichnungen, der das Hardcover auf 112 Seiten aufbläst), lediglich der transhumanistische Kaffee-Roboter Melville hat in mir dank des Mitleidsbonus ein paar Emotionen geweckt. Dazu ist das Erzähltempo einfach erschreckend uneinheitlich, denn gerade Tabors textlastige Dialogszenen nehmen viel Tempo raus. Und wenn es doch mal kritisch wird für die Protagonistin nimmt ein Deus ex machina sofort wieder die Spannung raus... Also insgesamt hat sich der Autor hier echt nicht mit Ruhm bekleckert, gerade auch wenn einzelne Dystopie-Ideen und der Versuch gelegentlicher Satire immer wieder andeuten, was hier eigentlich für Potential geschlummert hätte :-( Dafür entschädigen aber die nahezu immer absolut überzeugenden Zeichnungen! Stylischer Retro-Futurismus, da geht mein Herz auf :-D Vielleicht sollte der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) diesen Comic also lieber als Bildband mit ein paar störenden Sprechblasen vermarkten? :-P Okay, das war jetzt doch etwas bissig, aber ich ärgere mich wirklich über die schludrige Arbeit des Autors, der die großartige Arbeit des Zeichners entwertet. Fazit: Ach, was ist das für eine Schande mit „Nathanaëlle“ (Link)! Immerhin können sich Fans von coolem Retro-Futurismus diesen Comic als Bildband ins Regal stellen, mit 22 € ist er gar nicht mal so teuer, aber die mitunter holprig erzählte, insgesamt unbefriedigende Geschichte hätte so viel Potential gehabt :-(
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