Das Cyberpunk-Genre hat ja prinzipiell das große Problem, dass düstere Zukunftsvisionen viel zu schnell gelebte Realität werden – Sind wir mal ehrlich, aus den 80ern heraus betrachtet leben wir schon in einer ziemlichen Dystopie... Das Rollenspiel „Shadowrun“ hat es da ganz klug gelöst, denn auch wenn wir mittlerweile sehr viel Technik-Firlefanz haben, wird das Erwachen der Magie und die damit verbundene Schwemme an Geistern, Meta-Menschen und Monstern wohl noch ein wenig auf sich warten lassen – Und damit behält sich „Shadowrun“, im Gegensatz zu „realistischen“ Cyberpunk-Rollenspielen, seine eskapistische Phantastik bei. Und so staunt man bei seinen Streifzügen durch das Jahr 2078 immer noch genauso wie die von den Toten auferstandene Marlene Dietrich, die Hauptfigur des neuen „Shadowrun“-Romans von David Grade. Die große deutsche Schauspielerin Marlene Dietrich, eigentlich im Jahr 1992 verstorben, erwacht als junge Frau im Jahr 2078. Wie kann das sein? Viel Zeit bleibt ihr nicht, um sich diese Frage zu stellen, denn alsbald wird sie von einem riesigen Monster entführt – Naja, nicht wirklich, denn das riesige Monster ist der magiebegabte Troll Hemingway, der sie als Mitglied von 3V3s Shadowrunner-Crew (LeserInnen des ebenfalls von David Grade geschriebenen „Shadowrun: Iwans Weg“ erinnern sich) aus einem Hightech-Bordell retten soll. Denn die Welt hat sich seit Marlenes Tod verändert: Die Magie ist zurück und mit ihr allerlei Geister und Monster, die Technik hat mehrere Evolutionssprünge gemacht und die staatliche Strukturen sind auch nicht mehr das, was sie mal vor fast 90 Jahren waren ;-) Und so ist Marlene auch nicht, was sie glaubt zu sein: Sie ist Maria, eigentlich die Lebenspartnerin von 3V3 und auch eine Shadowrunnerin, deren Persönlichkeit mit einer KI-Marlene überschrieben wurde. Außerdem war auch noch der Schönheitschirurg am Werk, sodass nicht nur Marlene glaubt, dass sie die echte junge Marlene ist... 3V3 versucht nun irgendwie die echte Maria hervorzubringen, während Hemingway seine ganz eigenen Pläne verfolgt. Denn Marlene ist ein begehrtes Gut, das der japanische Konzern MCT nach all seinen (nicht wirklich legalen) Forschungen und Investitionen natürlich wiederhaben will. Damit beauftragt er den skrupellos aufstiegswilligen Tokugawa Shoji, dessen Hauptqualifikation daraus besteht, dass er die Tochter eines Vorstandsvorsitzenden geehelicht hat ;-) Und dieser Tokugawa beweist dann einmal mehr, dass gute Geschichten unbedingt einen guten Bösewicht brauchen! Denn während die Kapitel rund um die Protagonistin Marlene ganz ordentliche „Neuling muss sich in fremder Welt zurechtfinden“-Kost sind, durchaus spannend, aber auch eher vorhersehbar, rocken die Kapitel um den Antagonist Tokugawa so richtig. Diese Figur ist kein stupider Bösewicht, sondern sie hat eine glaubwürdige und nachvollziehbare Persönlichkeit – Ja, sie tut böse Dinge, aber würden wir in einer vergleichbaren Situation nicht auch so handeln, wenn wir könnten? Besonders hat mir gefallen, dass David Grade hier sehr authentisch den inneren Konflikt des Aufwachsens und Lebens in zwei verschiedenen, komplett konträren Kulturkreisen porträtiert hat – Da der Autor selber einen multiethnischen Hintergrund besitzt, würde ich die Figur des Tokugawa Shoji daher als ein Musterbeispiel des #OwnVoices-Literaturkonzepts anpreisen :-D Dass der Antagonist die Protagonistin so überstrahlt ist prinzipiell nicht schlimm. Aber es ist etwas ungünstig, weil die teils herausragenden Abschnitte rund um Tokugawa zumeist in der ersten Hälfte des Buches stattfinden (ich habe dieses Jahr nichts Spannenderes, aber auch emotional Berührendes gelesen als das lange Kapitel um die Ghoul-Verhandlung und das dicke Liebespärchen), wodurch die folgenden Abschnitte rund um Marlene und die finalen Konfrontationen etwas blasser wirken, als sie müssten – Denn auch sie sind durchweg gut, mitunter sogar sehr gut. Das liegt natürlich primär an der charmanten Protagonistin, die ihre Rolle als verführerische Diva mit Ecken und Kanten perfekt spielt und die dabei doch sympathisch und glaubwürdig bleibt – Dass man mit ihr gemeinsam das „Shadowrun“-Setting kennenlernt, ist zudem ein schöner Bonus für absolute Neulinge, die sich dadurch mit Marlene sicherlich noch besser identifizieren können :-) Auch die meisten Nebenfiguren lesen sich interessant und sind mit einer oft glaubwürdigen Charaktermotivation ausgestattet, sodass es hier für mich nichts zu meckern gibt ;-) Der Autor hat „Marlene lebt“ so spannend geschrieben, dass ich den Roman trotz seiner 360 Seiten rasch verschlungen habe. Denn die Handlung ist durchweg interessant und die eher seltene Action ist brachial – Aber für meinen Geschmack war es an einigen Stellen ein wenig zu hektisch und es ging alles irgendwie zu rasch. Dies fällt in der Gesamtheit der 360 Seiten nicht ins Gewicht, aber man hat durchaus den Eindruck, man würde als LeserIn merken, wie David Grade hier mit der vorgegebenen Seitenzahl gekämpft hat – Was er übrigens auch im Nachwort zugibt :-P Nichtsdestotrotz, ein wirklich toller Roman, den sich jeder „Shadowrun“-Fan holen sollte. Der Preis von 14,95 €, den „Pegasus Press“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellten) für das Taschenbuch verlangt, geht bei so einer spannenden Geschichte voll in Ordnung. Fazit: „Shadowrun: Marlene lebt“ (Link) ist das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe. Meine Wertung von 88 % beziehungsweise 4,4 / 5 hat sich David Grade redlich verdient :-D
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