Aus den franko-belgischen Comicsphären kommen ja öfters mal Werke über den 2. Weltkrieg. Meistens dienen die dort geschilderten Schicksale eher als Vorwand, um heroische Soldaten und detailgenau gezeichnetes Kriegsgerät lustvoll in Szene zu setzen. Ein gutes Beispiel dafür wäre etwa die sehr erfolgreiche Kriegscomic-Tetralogie „Die verlorene Armee“ (Link), welche thematisch dem hier besprochenen Comic ähnelt. Allerdings hören die Gemeinsamkeiten da eigentlich auch schon auf, denn „Die Reise des Marcel Grob“ ist eine eher stille, bedrückende Auseinandersetzung über Zwang und Schuld. Marcel Grob, ein angesehener Ingenieur aus dem Elsass, wird im Alter von 83 Jahren verhaftet. Ihm werden Kriegsverbrechen im 2. Weltkrieg zur Last gelegt. Anfangs streitet er noch alles ab, aber als der junge Richter ihm bei der Befragung sein altes SS-Soldbuch vorlegt, beginnt er zu erzählen: Im Juni 1944 wird der erst 17 Jahre junge Marcel zur Waffen-SS eingezogen, denn die braucht so dringend Rekruten, dass sie auf Jugendliche aus den annektierten Gebieten zurückgreift. Fliehen ist keine Option, sonst würde die Gestapo seine Familie ins Arbeitslager stecken. Immerhin hat er Glück im Unglück, denn ein paar seiner Fußballfreunde werden ebenfalls eingezogen. Doch nicht alle halten die harte Soldatenausbildung durch, noch vor der Vereidigung werden zwei Deserteure erschossen. Marcel wird zur 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ nach Italien versetzt, wo er Partisanen bekämpfen muss. Dabei nimmt er auch aktiv am Massaker von Marzabotto (Link) teil... Dieses Massaker gilt als das schwerste Kriegsverbrechen auf italienischem Boden, mindestens 770 Zivilisten – auch Frauen und Kinder – wurden innerhalb von drei Tagen ermordet. Der Comic zeigt diese Ereignisse drastisch, sodass sie die LeserInnen auch ohne zu explizite Darstellungen erschüttern werden. Aber dem Autor Philippe Collin geht es hier nicht nur um aufwühlende Antikriegsrhetorik, stattdessen stellt er anhand der Erlebnisse seines Großonkels Marcel Grob eindringlich die Frage, ob es für diesen und seine Kameraden überhaupt die Möglichkeit gab, sich dieser Verbrechen zu entziehen. Das führt unweigerlich dazu, dass man sich als LeserIn mit der Frage „Was hätte ich getan?“ beschäftigt. Und es führt zu der Frage, welche unser Land seit Kriegsende beschäftigt: Wer hat wann wie viel Schuld auf sich geladen? Sowohl juristisch, aber vor allem auch moralisch? Präsentiert werden Marcels Kriegserlebnisse in sepia-farbarmen, aber atmosphärisch kolorierten Zeichnungen. Dabei wechselt der Zeichenstil je nachdem, ob man sich beim Verhör in der Gegenwart oder bei den Kriegserinnerungen befindet. Der „Splitter Verlag“ (welcher mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) präsentiert die Geschichte in gewohnter Weise als qualitativ hochwertiges Hardcover, welches auf seinen 192 Seiten auch noch einen informativen, einordnenden Bonusteil enthält. Der Preis von 29,80 € erscheint mir da gerechtfertigt. Fazit: „Die Reise des Marcel Grob“ (Link) ist eine erschütternde Biografie und gleichzeitig ein eindringlicher Bildungscomic, der nachdenklich macht und zur Diskussion anregt. Er sollte Pflichtlektüre werden in der Schule, man sollte ihn in jeder Bibliothek ausleihen können. Denn er ist, auch jetzt noch, oder gerade jetzt, so wichtig!
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