Wenn ich mich mit anderen RollenspielerInnen über das viktorianische Detektiv-Rollenspiel „Private Eye“ unterhalte, dann höre ich sehr oft, dass mit diesem W100-System primär heimtückische Morde in höheren Adelskreisen assoziiert werden. Sicherlich liegt man mit diesem Gedanken auch gar nicht falsch, schlagen doch einige der besten Abenteuer (z.B. „Die 7 Abschiedsbriefe des Mr. Pomeroy“ (Link)) genau in diese Kerbe. Manchmal verlässt man aber die ausgetretenen Adelsmord-Abenteuerpfade und wendet sich heiklen moralischen („Auge um Auge“ (Link)) oder politischen („Tiefe Wasser“ (Link)) Themen zu. Der 12. und damit neuste Abenteuerband ist nun sozusagen ein Kompromiss: Aus einer klassischen Mordermittlung in höheren Kreisen wird plötzlich ein staatsgefährdender Politikthriller!
Im Jahr 1904 wird der Schiffsbauingeneuer Thaddeus Whistlespoon, der für die Marine ein völlig neues Schlachtschiff entwirft, tot in seinem Bett aufgefunden... Ja, ihr habt richtig gelesen: Für „Private Eye“-Verhältnisse spielt „Dreadnought: Fürchte Nichts!“ fast schon unverschämt weit in der Zukunft ;-) Jedenfalls sieht das anfangs alles nach einem natürlichen Tod aus, doch immerhin verkörpern die SpielerInnen die fähigsten ErmittlerInnen ihrer Majestät, da ist der vermeintliche Mörder schnell gefasst. Achtung, ab jetzt wird hart gespoilert: Und tatsächlich scheint es anfangs wieder so ein „Private Eye“-typisches Familiendrama zu werden, doch dann schaltet sich der Marinenachrichtendienst ein. Denn aufgrund Whistlespoons streng geheimer Schiffsbauprojekte steht der Verdacht im Raum, dass hier ausländische Mächte ihre Finger im Spiel haben. Und so können die SpielerInnen alsbald beweisen, dass sie nicht nur kompetent ermitteln, sondern auch noch effektive Gegenspionage betreiben :-)
In der Welt der internationalen Spionage geht es ja oft um die Täuschung des Gegners. Und genau so täuscht der Autor Jens Holzinger die SpielerInnen: Denn Anfangs glauben diese, hier noch einen „kleinen“ Mordfall vor sich zu haben, wie man ihn in den großartigen Download-Schnellstartern (Link) findet: Ein räumlich abgeschlossenes Szenario, einige wenige Verdächtige, halbwegs eindeutige Indizien – Doch dann nimmt der Plot gleich zwei spannende Wendungen. Erstens zieht das Abenteuer politische Kreise. Und zweitens, und das hat mir besonders gut gefallen: Jeder kann zum Mörder werden! Je nachdem, wie man als SpielleiterIn Lust hat oder wie die ErmittlerInnen vorankommen, ermöglicht einem das Abenteuer beispielsweise, dass der Mörder seine Mordserie fortsetzt oder dass die Hinterbliebenen ihrerseits zu Morden anfangen... Das gibt der SpielleiterIn ein, zumindest für „Private Eye“-Verhältnisse, fast schon revolutionäres Gefühl von Freiheit ;-)
Entsprechend sollte man aber, wie bei fast allen „Private Eye“-Abenteuern, schon ein wenig Erfahrung als SpielleiterIn mitbringen. Dank verständlich geschriebener Texte, einer gewohnt umfangreichen Zusammenfassung am Buchende, hilfreichen NSC-Beschreibungen, übersichtlichen Karten und überraschend vielen Handouts sollte man sich nach einiger Einarbeitung aber durchaus in der Lage fühlen, den ErmittlerInnen einen ungefähr zwei, maximal drei Spielabende langen Krimispaß zu bieten :-) Layout, Lektorat und Druckqualität sind wieder auf dem typischen „Private Eye“-Niveau der „Redaktion Phantastik“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), sodass der Preis von 13,95 € für ein 56 Seiten umfassendes Softcover in Ordnung geht.
Fazit: Auch der 12. Abenteuerband „Dreadnought: Fürchte nichts!“ (Link) bietet wieder gewohnt gute Krimi-Kost für viktorianische DetektivInnen.