Es war die vielleicht größte Überraschung des 2016er Blog-Leserpreises (Link): Die damals gerade frisch auf dem Markt erschienene 5. Auflage des viktorianischen Detektiv-Rollenspiels „Private Eye“ errang den Silberpreis in der Kategorie „Bestes Rollenspiel“ und konnte sich damit teils deutlich sowohl vor anderen Neuauflagen wie der 5. Edition „Das Schwarze Auge“ und der 7. Edition „Call of Cthulhu“ als auch vor gehypten Newcomern wie „Numenera“ und „Symbaroum“ durchsetzen. Da stellt sich natürlich die Frage, ob diese Auszeichnung denn verdient war? Und hat sich eigentlich viel zum Vorgänger verändert? Fragen über Fragen, denen ich wie Sherlock Homes auf den Grund gehe ;-) Um gleich mal die zweite Frage zu beantworten: Geändert hat sich zur vierten Edition eigentlich nicht viel. 15 Änderungspunkte werden im Buch aufgelistet, zumeist eher behutsame Anpassung und Erratierung, also quasi Evolution statt Revolution :-) Auch die Neuauflage bietet dem Leser ein schlankes W100-Regelsystem mit umfangreichem Quellenteil. Wer den Vorgänger kennt, kann meine folgende „Private Eye“-Einführung also getrost überspringen ;-) „Private Eye“ versetzt die Spieler ins viktorianische England, wo sie knifflige Kriminalfälle lösen und sich dabei auch mit den gesellschaftlichen Konventionen herumschlagen müssen. Der klassische „Sherlock Holmes“-Privatdetektiv ist genauso möglich wie etwa ein Versicherungsdetektiv, ein Kommissar von Scottland Yard, ein neugieriger Journalist oder auch ein Anwalt. Der Spielschwerpunkt liegt dabei eindeutig auf Ermittlung, Befragung und sozialem Spiel, das Setting ist dabei historisch korrekt mit all seinen Konsequenzen (z.B. haben es weibliche Charaktere und gewisse Stände schwerer in gewissen Kreisen akzeptiert zu werden). Man sollte also schon bei der recht einfachen und ziemlich klassischen Charaktererschaffung überlegen, welche spielerischen Konsequenzen und auch Anforderungen die Berufs- und Geschlechterwahl mit sich bringt. Dann darf man sechsmal den W100 würfeln, die Ergebnisse zusammenzählen und deren Summe auf die sechs Grundeigenschaften (Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Ausstrahlung, Bildung) verteilen, wobei sie jeweils zwischen 10 und 97 Punkten liegen dürfen. Liegt diese Würfelsumme unter 250 Punkten, darf man einfach neu würfeln. Auch wenn man unzufrieden ist, dürfte man dies noch einmal tun (dies wäre übrigens eine der Neuerungen im Vergleich zur 4. Edition). Abhängig von der Konstitution ermitteln sich die Lebenspunkte (KON/5) - Da der durchschnittliche Schaden 1W10 beträgt, können je nach Konstitution also schon zwei, drei Angriffe zum Tod führen. Dann wählt man für den Charakter die entsprechenden persönlichen und sozialen Eigenschaften (z.B. ganz wichtig zur damaligen Zeit: Reputation) und würfelt hiernach seine Fertigkeitspunkte aus (W10-Anzahl abhängig von Grundeigenschaften und Vermögen, deren Summe mal drei; Mindestergebnis muss 70 Punkte betragen), welche dann verteilt werden und zusammen mit Boni/Mali und dem Grundwert den Fertigkeitswert (wieder zwischen 10 und 97) bilden. Dann ermittelt man für die vier Kampfarten Faustkampf, Nahkampf, Schusswaffen und Werfen die Trefferwahrscheinlichkeit, welche sich jeweils aufspaltet in einen frei wählbaren Angriffs- und Verteidigungswert. Jetzt noch ein wenig Regelkunde, dann kann es schon losgehen :-) Proben werden mit einem W100 auf den Fertigkeitswert oder, falls es keine Entsprechung gibt, auf eine Grundeigenschaft (oder zwei Grundeigenschaften, deren Durchschnitt gebildet wird) abgehalten. Dabei muss man versuchen, den Zielwert genau zu erwürfeln oder zu unterbieten. Bei einer 1 – 3 gelingt ein kritischer Erfolg, bei einer 98 – 100 ein kritischer Fehlschlag. Nach Spielleitergutdünken können Proben zudem erleichtert oder erschwert werden. Bei Kämpfen würfelt der Angreifer gegen seinen Angriffswert, wenn dies gelingt der Verteidiger auf seinen Verteidigungswert. Verpatzt dieser, werden 1W10 (Schusswaffen, spitze Waffen) bzw. 1W10/2 (Stumpfe Waffen) Schaden ermittelt, kritische Erfolge erhöhen den Lebenspunktverlust um bis zu zwei. Gezielte Angriffe sind auch möglich, diese werden entsprechend erschwert, dafür bringen sie aber auch besondere Auswirkungen. Ein gezielter Knock-Out-Faustschlag etwa wäre um das fünffache erschwert (AW/5), dafür ginge das Ziel nach einem erfolgreichen Angriff direkt KO. Nicht nur für erfolgreiche Angriffe, sondern besonders auch für gelöste Verbrechen gibt es Erfahrungspunkte, welche die Spieler nutzen können um Stufen aufzusteigen und somit ihre Fähigkeiten zu verbessern. Das war es dann auch schon im Großen und Ganzen mit den Regeln, welche effektiv 15 Seiten des Regelwerks umfassen. Spielleiter dürfen sich am Ende des Regelkapitels außerdem an einer der größten Verbesserungen im Vergleich zur Vorgängeredition erfreuen: 13 Seiten voll mit Tipps & Tricks, wie man einen Kriminalfall als Rollenspielabenteuer gestaltet. Und dann sind gerade mal ein Fünftel des Buches rum :-) Den weitaus größten Teil des Buches nimmt auch in der neuen Edition der umfangreiche Quellenteil ein. Nach einer allgemeinen Vorstellung des britischen Weltreiches folgt eine umfangreiche Einführung in das viktorianische London. Beginnend von allgemeinen Informationen wie dem Wetter und der Bevölkerung über die Techniken des Alltags bis hin zur viktorianischen Gesellschaft erhält man eine, trotz der zahllosen Fakten, überraschend schnell und flüssig lesbare Geschichtsabhandlung. Im Anschluss folgt ein nicht minder umfangreiches Stadtlexikon, welches in seiner Aufmachung fast an einen historischen Reiseführer erinnert und neben berühmter Schauplätze auch berühmte Personen sowie die viktorianische Geschichte vorstellt. Nun aber folgt das wahre Highlight des Regelbuches: Ein umfangreiches Quellen- und Hintergrundkapitel zur Kriminalität(-sbekämpfung) zur Zeit von Sherlock Holmes! Wie kann man Täter mit den neusten Techniken identifizieren (Stichwort Fingerabdruck)? Wie ermittelt man die Todesursache? Wie unterscheidet man Gifte voneinander? Wie recherchierte man damals? Wie war Scottland Yard organisiert und welche berühmten Kriminalfälle gab es? Eigentlich lohnt sich "Private Eye" allein schon wegen dem Quellenteil, der rund drei Fünftel des Buches ausmacht :-) Im Anschluss folgt noch ein kurzes Einsteigerabenteuer, in dem es um eine entführte Pub-Erbin sowie die Intrigen einer Heiratsschwindlerin geht. Der ziemlich bodenständige Kriminalfall ist dabei gut geeignet, um Systemeinsteigern und dabei ganz besonders Neuspielleitern „Private Eye“ näherzubringen. Die in drei Akte aufgeteilte Handlung ist recht offen und bietet neben einigen Spielleiterhilfen (Tipps, Zeitleiste, Spurenzusammenfassung) auch detailliert ausgearbeitete Charaktere und einigen Handouts (welche man teils aber umständlich aus dem Text herauskopieren und dann ausschneiden muss, hier hoffe ich doch dass es bald einen Download wie bei den Kaufabenteuern geben wird). Zugegebenermaßen hat mich das Abenteuer nicht gepackt, denn auch wenn es spielerisch gut funktioniert ist mir das Setting irgendwie etwas zu unspektakulär (und irgendwie ist es schade, wenn man sich durch so viel CSI-Quellenmaterial durchwühlt, um es dann nicht zu brauchen ;-)). Einsteigern möchte ich daher eher den zeitgleich erschienenen 10. Abenteuerband „Liebe, Geld und andere Intrigen“ (Link) und dort speziell „Die Leiche im Moor“ empfehlen. Der Übersichtlichkeit wegen gibt es nicht nur ein Gesamtinhaltsverzeichnis, sondern auch noch für jedes Kapitel ein eigenes. Auch arbeitet das Layout viel mit Hervorhebungen, Fettdrucken und Absätzen, sodass man sich auf den textlastigen Seiten (welche einige wenige Fehler enthalten) durchaus rasch zurechtfindet. Persönlich hätte ich mir noch eine kurze Regelzusammenfassung gewünscht, wie man sie beispielsweise bei den Download-PDFs (Link, mein Tipp: "Die Erbschaft") und bei den Checklisten findet. Anderseits sind die Regeln ja ziemlich einfach ;-) Optisch nicht ganz gelungen finde ich das Fehlen von Rändern rund um die Texte, da hätte schon 1 mm links und rechts sehr viel hergemacht. Unabhängig davon kommt durch die vielen Illustrationen und Bilder (von denen - für ein „Private Eye“-Produkt :-P - lobenswert wenige unscharf oder pixelig sind) die passende Atmosphäre auf. Neben dem qualitativ gut gedruckten, 256 Seiten starken Hardcover (inkl. Lesebändchen) erhält man für den Preis von gerechtfertigten 39,95 € auch noch eine DIN A1-Karte des 1895er Londons dazu. Für die PDF-Version (Link) verlangt die „Redaktion Phantastik“ (welche mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) 17 €. Fazit: Die fünfte Auflage des regelarmen W100-Rollenspiels „Private Eye“ (Link) erfreut Nachwuchsdetektive mit sanften, aber sinnvollen Regel- und Textverbesserungen sowie massenhaft Quellenmaterial. Zusätzlich enthält es das in der vierten Edition schmerzhaft vermisste Spielleiterkapitel und ein ordentliches Einsteigerabenteuer, sodass ich „Private Eye“ vorbehaltlos zugestehen muss, dass der 2016er Blog-Leserpreisauszeichnung in Silber als „Bestes Rollenspiel“ absolut verdient war :-D