Als ich auf der letztjährigen SPIEL (Link) den „System Matters“-Stand besuchte, wollte ich den Neuverlegern eigentlich nur für ihre großartige OSR-Übersetzung „Beyond the Wall“ danken. Dann lag da aber auch die deutsche Version des preisgekrönten W6-Indie-RPGs „Kagematsu“ aus, welche mich allein der Optik wegen zu einer spontanen Vorbestellung veranlasste. Kurz nach der Messe war das kleine Regelbüchlein dann schon da und mittlerweile konnte ich es auch mal anzocken – Steckt hinter der schmucken Fassade ein gutes Spiel?
„Kagematsu“ ist ein erzählorientiertes OneShot-Rollenspiel, welches die Spieler in ein kleines japanisches Dörfchen im Jahr 1572 versetzt. Die Männer sind im Krieg, sodass Alte, Frauen und Kinder schutzlos einer wie auch immer gearteten Bedrohung ausgesetzt sind. Mögliche Hilfe verspricht der eigensinnige Ronin Kagematsu, welcher allerdings erst von den Damen des Dorfes um den Finger gewickelt werden muss. Doch zuvor muss das Spiel erst einmal vorbereitet werden: Die Spieler erschaffen gemeinsam das Dorf und dessen Bedrohung (z.B. ein umherstreifender Wolf oder eine Räuberbande), außerdem die zu spielenden Charaktere. Dabei muss, das ist ein wesentlicher Grundstein des Spielkonzepts, der Ronin von einer Frau übernommen werden. Die Dorfdamen wählen zwei von drei Favoriten (Person, Ort, Gegenstand – Halt irgendwas, was sie später in ihre Flirtversuche einbauen können) und verteilen sieben Punkte auf die Charakterwerte Liebreiz und Unschuld. Abhängig von der Spieleranzahl bekommen sie außerdem noch einen Furcht-Wert. Und dann kann es mit der von der Ronin-Spielerin beschriebenen Einleitung, wie ihr Charakter im Dorf ankommt, auch schon losgehen...
Ziel der Dorfdamen ist es, das Herz des Ronins für sich zu gewinnen und ihn so das Versprechen abzuringen, sich der Bedrohung entgegenzustellen. Hierfür erhalten sie pro Spielrunde eine eigene Szene, für welche sie den gewünschten Grad der Zuneigung (z.B. ein Lächeln, ein Kuss, ein Liebesgeständnis) festlegen. Die Ronin-Spielerin baut dann die Szene um diese Zuneigung herum auf und nutzt dafür auch bevorzugt die Favoriten der Dorfdame. Im Verlauf der ausgespielten Szene kann die Ronin-Spielerin dann eine Würfelprobe verlangen. Diese ist W6-basiert, die Anzahl der genutzten Würfel basiert auf dem genutzten Charakterwert (Dorfdame) beziehungsweise der Zuneigungsschwierigkeit (Kagematsu). Beide Spieler vergleichen ihre kumulierten Wurfergebnisse (die Ronin-Spielerin zieht noch ihren Liebeswert gegenüber der Dorfdame ab). Bei einem Erfolg sinkt die Spieler-Furcht um 1, außerdem darf er die Szene weiterführen. Die genutzte Zuneigung darf jedoch nicht nochmal verwendet werden. Bei einem Misserfolg dagegen kann der Spieler versuchen, die Szene noch mit einer Verzweiflungstat (z.B. einer Lüge) zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Gewürfelte Sechsen werden nicht zum Ergebnis dazugerechnet, sondern auf die Schattenleiste abgelegt. Wurden drei Stück davon angesammelt, unterbricht die Szene für den Auftritt der Bedrohung. Nach jeder Szene vergibt die Ronin-Spielerin für die Dorfdame heimlich einen Punkt Liebe oder Mitleid.
Irgendwann hat es eine Dorfdame hoffentlich geschafft, Kagematsu das Versprechen abzuringen (falls nicht, haben die Spieler verloren und allen droht ein schlimmes Schicksal). Dann folgt die finale Konfrontation, in der sich der Ronin der Bedrohung stellt. Hierfür nutzt er so viele Würfel, wie er Liebespunkte an eine Dorfdame vergeben hat. Seinen Wert vergleicht er mit dem kumulierten Wurfergebnis der Furcht aller Dorfdamen, welche sich aber heroisch opfern können um nicht mitwürfeln zu müssen. Es folgt ein ausschweifender Epilog, dann ist der Kampf um das Dorf und das Herz von Kagematsu auch schon vorbei :-) Zugegeben, das klang jetzt alles sehr abstrakt und wirkt von den Spielmechanismen her fast schon wie ein klassisches Brettspiel, in dem jeweils nur zwei Spieler „gegeneinander“ spielen und dabei nach und nach versuchen schwierigere Würfelproben zu bestehen. Der Zauber von „Kagematsu“ liegt dabei auch weniger in der (allerdings tatsächlich gut funktionierenden) Spielmechanik als vielmehr in der Interaktion der Spieler miteinander. Spielen alle Teilnehmer ihre Rollen gut aus, erlebt man gemeinsam eine dramatische Japano-Seifenoper. Selten habe ich ein Rollenspiel erlebt, bei dem die Spielfreude daran so abhängig von der darstellerischen Kompetenz der Mitspieler war.
Eine interessante Beobachtung, welche ich dabei in den letzten Wochen machen durfte, ist dass das Setting von „Kagematsu“ in meinem Bekanntenkreis primär Frauen ansprach, gerade auch solche, welche mit „klassischen“ Rollenspielen eher wenig am Hut hatten. Oft war deren Interesse allein schon durch das sehr schöne Artwork des kleinen Heftchens geweckt; nach der Lektüre der flüssig lesbar geschriebenen und mit vielen Beispielen versehenen, gut lektorierten Texte kamen sie von selbst auf mich zu, um dieses Spiel mal auszuprobieren. Allein dafür haben sich die 12,95 € für ein 52-seitiges Softcover schon gelohnt :-P Das Büchlein bietet zusätzlich auch einen interessanten Anhang mit Beispielnamen, Glossar und historischen Informationen. Vermisst habe ich lediglich eine Regelzusammenfassung, aber die kann man hier (Link) nachlesen.
Fazit: Ich persönlich tue mich ja immer ein wenig schwer mit Charakterspiel, aber „Kagematsu“ (Link) hat mich mitgerissen und begeistert. Eine echte Indie-Perle :-D