Kontrafaktische Geschichte ist ein immer wieder gerne genommenes Motiv verschiedenster SciFi-Publikationen. Die Frage „Was wäre, wenn...?“ stellt sich auch der besonders für seine „Neuromancer“-Trilogie bekannte Autor William Gibson in der Comic-Reihe „Archangel“, welche nun bei „Cross Cult“ als abgeschlossener Sammelband erschienen ist. Eigentlich stellt er sie sich gleich zweimal: „Was wäre, wenn es eine sich absolut identisch entwickelnde, parallele Erde gäbe, die man kolonisieren wollen würde?“ und „Was wäre, wenn man dort zurück in den zweiten Weltkrieg reist, um die US-Atombomben auf die Sowjetunion zu werfen?“.
Tja, diese beiden Fragen in der Einleitung haben eigentlich schon die Grundprämisse der Story sehr treffend umrissen: Die Welt ist 2016 mal wieder komplett kaputt, weil die USA mit Massenvernichtungswaffen ihre globale Dominanz gesichert haben. Aber das ist noch lange kein Weltuntergang, denn mit der sogenannten Quantum-Transfereinrichtung kann man eine auch historisch absolut identische Parallelwelt erschaffen. Und nicht nur das, man kann auch noch in die Vergangenheit eben jener Parallelwert reisen und sich die Geschichte nach den eigenen Vorstellungen formen. Der US-Vizepräsident Henderson will sich das zunutze machen und ans Ende des zweiten Weltkriegs reisen, um nicht die Japaner, sondern die Sowjets mit Atomwaffen zu bombardieren. So soll die US-Weltherrschaft schon viel früher zementiert und der Weg in eine glückliche Zukunft geebnet werden... Ein genialer Plan, doch eine kleine Gruppe Widerständler schickt zwei Soldaten hinterher, damit die Geschichte ihren gewohnten Gang geht.
Eben jene Widerständler sind dann auch die Protagonisten des aus fünf Einzelheften bestehenden Sammelbandes: Die Anführerin ist die Technikerin Torres, welche in diese Duplikat-Welt zwei Marinesoldaten schickt und diese mit modernster Technik (Tarnanzügen, Fliegen-Drohnen) versorgt. Leider klappt das nicht ganz so gut wie eigentlich erhofft, denn einer stirbt direkt bei der Ankunft und der andere gerät in Gefangenschaft. Also gilt es rasch Verbündete zu rekrutieren, nämlich die britische Geheimagentin Naomi Givens, ihren Ex-Geliebten & US-Kollegen Vince Matthews sowie den deutschen Schwarzmarktspezialisten Fritz. Und die Zeit drängt für das Quartett (bzw. Quintett, wenn man Torres in der „echten“ Welt mitzählt), denn einerseits rückt der Atombombenabwurf immer näher, andererseits sind ihnen Henderson und seine gnadenlosen Söldner sowohl in der Realwelt als auch in der Parallelwelt dicht auf den Fersen!
Die spannende, aber auch etwas gehetzt wirkende, ja manchmal gar als hektisch zu bezeichnende Geschichte lebt einerseits von den unterschiedlichen Charakteren als auch von dem merklichen (Zeit-)Druck, unter dem sowohl die interessanten Prota- als auch die arg blassen Antagonisten stehen. Ständig geht es vorwärts, irgendetwas passiert immer – Sowohl in den anfangs eher ruhigen, gerade in den späteren Kapiteln auch vielmals actionreichen (teils auch etwas aus der Rolle fallenden pulpig-trashigen) Szenen. Manchmal passiert gar ein wenig zu viel – Vielleicht ein, zwei Kapitel bzw. Hefte mit etwas Ruhe und mehr Tiefgang hätten aus dieser sehr ordentlichen Geschichte eine mindestens gute, wenn nicht gar sehr gute Geschichte gemacht... Ein wenig mehr Ruhe und Konstanz hätte auch der optischen Präsentation gut getan, die bei allem Lob (atmosphärisch, schön koloriert, in den Actionszenen dynamisch) doch gelegentlich ein wenig schwankend in ihrer Qualität ist. Absolut konstant dagegen ist die tolle Druckqualität von „Cross Cult“ (welche mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben), welche für das 128 Seiten umfassende und mit viel Bonusmaterial aufgewertete Hardcover akzeptable 22 € verlangen.
Fazit: Okay, sind wir ehrlich, der etwas hektische „Archangel“ (Link) von William Gibson wird in die SciFi-Szene nicht so stark einschlagen wie seine „Neuromancer“-Romane. Für sich genommen bietet dieser spannende Alternativgeschichte-Actioncomic jedoch mehr als ordentliche Unterhaltung für Genre-Fans, welche sich an einem interessanten Gedankenspiel und schönen Zeichnungen erfreuen können.