„Avatar – Der Herr der Elemente“ zählt, ebenso wie der Nachfolger „Die Legende von Korra“, zu den bedeutendsten und auch besten westlichen Animationsserien. Eine riesige Fangemeinde (die zweifelsohne durch die diesen Monat startende Netflix-Verfilmung noch einmal anwachsen wird) lässt sich auch viele Jahre nach dem Serienende noch gern in die fernöstlich angehauchte Fantasy-Welt entführen, was u.a. der wahnsinnig erfolgreiche Rollenspiel-Kickstarter (fast 10 Millionen US$) beweist. Nun hat sich „Pegasus Spiele“ die Lizenz gesichert und „Avatar Legends“ eingedeutscht. Na mal schauen, ob ich als „Gelegenheits-Avatar-Zuschauer“ begeistert sein würde oder ob das hier nur wieder Merchandise-Fanabzocke ist...
...wobei es vermutlich nur wenige Rollenspiel-Verlage da draußen gibt, denen man noch weniger als „Pegasus Spiele“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellten) vorwerfen könnte, dass sie ihre Fans abzocken. Denn das 308 Seiten dicke und knapp eineinviertel Kilo schwere Grundregelwerk (vollfarbiges Hardcover mit Lesebändchen) kostet schlappe 39,95 €. Aber es kommt ja nicht nur auf Quantität an, sondern auch auf Qualität, also schauen wir doch mal direkt rein ins Buch :-)
1. Zu Beginn folgt logischerweise die Einführung in das Spiel. Was ist ein Rollenspiel? Was für Spielmaterial benötigt man? Und worum geht es eigentlich? Bei den meisten Grundregelwerken, gerade abseits des populären Mainstreams, halte ich dieses Einführungskapitel für recht unnötig – Welcher absolute Neuling ohne jegliche Idee vom Rollenspiel-Konzept kauft sich ein absolutes Indie-Nischensystem? Bei „Avatar Legends“ jedoch ist dieses Kapitel ziemlich wichtig, da die Popkultur-Marke so stark zieht, dass ich mir durchaus vorstellen kann, dass es sich auch nicht-rollenspielende Serien-Fans kaufen, die einfach nicht genug vom „Avatar“-Universum haben können ;-)
2. Anschließend wird Die Welt von Avatar Legends erklärt. Und zwar fast 80 Seiten lang! Da lernt selbst ein Gelegenheits-TV-Zuschauer wie ich noch eine ganze Menge :-D Das Interessante ist dabei, dass man die Spielwelt gleich über fünf verschiedene Zeitalter bespielen kann, wodurch sich der Fokus des Spielgeschehens ändert. Jedoch erstreckt sich jede Ära immer nur über einen einen kurzen Zeitraum, welcher eng mit einem besonderen Ereignis im Leben des jeweiligen Avatars verknüpft ist. Und wer jetzt hier zufällig reingelesen hat, ohne sich mit der Materie beschäftigt zu haben, dem seien die Worte des Serien-Intros in Erinnerung gerufen: „Wasser, Erde, Feuer, Luft. Vor langer Zeit lebten alle vier Nationen zusammen in Harmonie. Doch dann erklärte uns die Feuernation den Krieg und alles änderte sich. Nur der Avatar, Herr der 4 Elemente, hätte sie aufhalten können. Doch als die Welt ihn am meisten brauchte, verschwand er...“
3. Nun weiß man wirklich mehr als genug von der Hintergrundwelt, jetzt geht es ans Eingemachte. Im dritten Kapitel lernt man Die Grundlagen des Spiels: „Avatar Legends“ basiert auf dem erzählorientierten PbtA-Regelsystem, man würfelt 2W6-Proben also basierend auf Spielzügen entsprechend der eingenommenen Rolle innerhalb der Gruppe. Je nach Wurfergebnis (2W6 + Modifikator) scheitert die Probe dann (maximal 6), ist ganz okay mit Komplikationen (7-9) oder sie ist eben gut gelungen (10+). Also typische PbtA-Erzählspielmechaniken, die man entweder liebt oder aber hasst. Hinzu kommt das Element des Gleichgewichts, bei dem zwei gegensätzliche Prinzipien des Charakters (z.B. Unterstützung–Führung oder Tradition–Fortschritt) je nach den Handlungen mehr oder minder an Bedeutung gewinnen. Geraten Charaktere (auch NSC) aus dem Gleichgewicht, verlieren sie ihre Kräfte und handeln ganz nach ihren Prinzipien, selbst wenn das zu Ungunsten der Gruppe ist.
4. Es folgt die Charaktererschaffung, die mit der Wahl der Ära und des Schauplatzes beginnt. Dann sucht man sich ein gemeinsames Gruppenziel aus und inszeniert einen Initialkonflikt, bevor man dann endlich seinen auf einem der zehn Rollenbücher basierenden Charakter bastelt.
5. Nun muss man sich mit der Spielmechanik, daher Die grundlegenden Züge und auch entsprechenden Status, auseinandersetzen. Es gibt verschiedenste Grundzüge, Kampfzüge, Gleichgewichtszüge etc. – Das PbtA-Regelsystem ist und bleibt kompliziert, was „Avatar Legens“ für absolute Rollenspiel-Neulinge zu einer Herausforderung macht.
6. Anschließend werden die zehn Rollenbücher vorgestellt. Nicht immer versteht dabei anhand des Namens, was diese Rolle eigentlich kann. „Schlitzohr“ und „Hammer“ sind etwa klar, aber bei „Ikone“ und „Pfeiler“ wird es schon schwerer. Da jede Rolle aber auf drei Seiten ausführlich vorgestellt wird, bekommt man rasch einen Eindruck von ihrem Sinn & Zweck innerhalb einer Gruppe.
7. Wie in fast allen Rollenspielen entwickeln sich die Charaktere weiter, weshalb es natürlich auch hier Regeln für die Charakterentwicklung gibt.
8. Nun hab ich ja schon angemerkt, dass die PbtA-Regeln nicht unbedingt einsteigerfreundlich sind – Und zwar nicht nur für die Spielenden, sondern auch für die Spielleitung. Deshalb gibt Die Leitung des Spiels ein paar hilfreiche Tipps.
9. In die gleiche Kerbe schlägt das nächste Kapitel, welches sich mit Staffeln und Kampagnen befasst.
10. Zuletzt kann die Spielleitung ihre neuen Erkenntnisse direkt anwenden, denn ein BeispielAbenteuer wartet darauf, dass man es bespielt. Ein netter kleiner Entführungskrimi, der tatsächlich aber nur sehr grob skizziert wird, weil man als Spielleitung explizit die Handlung (und selbst den/die Schuldigen) an die Aktionen der Spielgruppe anpassen soll.
Anschließend folgen noch drei nützliche Anhänge (Techniken, NSC, Spielmaterialien), dann ist man auch schon nach sehr vielen Stunden Lesezeit durch ;-) Und wie spielt sich das jetzt? Tatsächlich gar nicht mal schlecht! Die erzählorientierten Spielmechaniken, welche kreative Lösungswege befördern (obschon sich die Kämpfe mit allerlei Taktiken & Techniken selbst im kleineren Rahmen durchaus episch anfühlen können), passend ziemlich gut zum „Avatar“-Flair. Alle Testspielenden, die ich mal so gefragt habe, zeigten sich jedenfalls sehr begeistert von der spielerischen Umsetzung des Settings und von der gesamten Atmosphäre – Dass die Illustrationen dabei direkt aus der TV-Serie stammen könnten, hat da sicherlich geholfen ;-) Gerade absolute Rollenspiel-Neulinge taten sich aber schwer mit dem PbtA-Regelsystem, was aber ein wiederkehrender Kritikpunkt an allen PbtA-Rollenspielen ist (z.B. zuletzt auch bei „Worldwide Wrestling“). Steigt man hier aber irgendwann mal durch, bekommt man wirklich tolle Erlebnisse präsentiert. Gerade für den Job als Spielleitung sollte man sich aber ganz unbedingt jemanden mit Erfahrung suchen, denn trotz mehrerer Kapitel wird man hier mit recht vielen Fragezeichen zurückgelassen – Wer kommt denn auch auf die Idee, bei einem Beispielabenteuer (damit die Spielleitung mal sieht, was sie eigentlich machen kann) darauf zu setzen, dass die Spielleitung sich durch 90 % der Handlung durch-improvisiert???
Fazit: Ich kann euch alle beruhigen: „Avatar Legends“ (Link) ist keine Merchandise-Fanabzocke, sondern ein richtig gutes, sehr atmosphärisches Rollenspiel. Man sollte halt schon ein wenig PbtA-Erfahrung mitbringen, um es wirklich genießen zu können, aber dann ist es (gerade für den günstigen Preis) ein absoluter Pflichtkauf für alle Fans der TV-Serie!