Bisher war ich ja eher so der SciFi-Fan, aber einige Comics und mein Schwiegervater haben mein Interesse für Steampunk geweckt. „Space 1889“ war da schon ein sehr netter Einstieg (wobei ich kürzlich darauf hingewiesen wurde, dass es sich dabei um Ætherpunk handelt, wo auch immer der Unterschied liegt... :-P) aber nun hab ich „Eis & Dampf“ gelesen und bin diesem Gerne verfallen. Hierbei handelt es sich um ein komplettes Setting-Buch für das Regelsystem „Fate Core“ mitsamt einer ausgearbeiteten, komplexen Spielwelt sowie entsprechenden Regelerweiterungen und vorgefertigten Abenteuern. Die Welt von „Eis & Dampf“ basiert auf dem sehr erfolgreichen und preisgekrönten Steampunk-Roman „Die zerbrochene Puppe“ von Judith und Christian Vogt aus dem Jahr 2012 sowie der Kurzgeschichten-Anthologie „Eis und Dampf“ aus dem Jahr 2013.
Europa wurde im 9. Jahrhundert n.Chr. von einer schweren Eiszeit getroffen, die den Verlauf der Menschheitsgeschichte entscheidend verändert hat. Einerseits negativ, beispielsweise ist der gesamte Norden Europas von Eismassen bedeckt und damit unbewohnbar. So haben sich nun, im 19. Jahrhundert n.Chr. beziehungsweise im Jahr 904 Anno Noctics, auch die europäischen und globalen Machtverhältnisse geändert: Amerika wurde noch gar nicht entdeckt. Mangels Kolonien spielt daher Ængland mit seinem winzigen bewohnbaren Landstrich politisch eher eine untergeordnete Rolle. Das osmanische Reich ist dafür noch über halb Osteuropa ausgedehnt und zählt sogar Österreich zu seinem Staatsgebiet. Und Palästina befindet sich gar unter der Kontrolle Japans.
Andererseits hat sich die Geschichte aber auch positiv verändert: Not macht ja bekanntermaßen erfinderisch, und so hat diese Eiszeit eben auch zu einem enormen Technologiesprung geführt: Luftschiffe sind das gängige Fortbewegungsmittel, in vielen Lebensbereichen werden mit Lochkarten programmierbare Maschinen eingesetzt und auch künstliche Gliedmaßen sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Doch trotz diesem hohen Entwicklungsstand (oder gerade deswegen?) können die Menschen es natürlich nicht lassen nach noch mehr Macht und Reichtum zu streben. Denn nicht nur die verschiedenen Staaten intrigieren und kämpfen gegeneinander, sondern auch zahlreiche mehr oder minder geheimen Organisationen und Adelshäuser. Friesen gegen die Lufthanse, Bibliker gegen Gnostiker, Habsburger gegen Osmanen, Gewerkschaften gegen Industrielle – Mehr als genug Konflikte also, in die sich die Spieler einmischen können.
Dabei können die Spieler entweder einen neuen Charakter erschaffen, wobei das Buch neben vielen passenden neuen Stunts und Fertigkeiten auch Tipps bietet, oder einen der gut ausgearbeiteten vorgefertigten Archetypen nehmen. Diese Archetypen spielen auch die Hauptrollen in einer siebenteiligen Kurzgeschichte, welche die verschiedenen Kapitel des Buches abschließt. Diese ist sehr spannend, hat aber einen kleinen Makel: Ich fand es persönlich ein wenig unangebracht, dass die nubische Söldnerin als Mohrin bezeichnet wurde. Nicht unbedingt das Wort an sich, da es ja die „damals“ typischen Gedanken wiederspiegelt. Aber dass jede Person mit Namen genannt wird, aber man die Söldnerin durchweg auf ihre Hautfarbe reduziert, das fand ich dann schon unglücklich formuliert.
Aber mal wieder weg von meiner subjektiven Meinung hin zu objektiven Fakten: Insgesamt umfasst „Eis & Dampf“ sieben Kapitel. Im ersten Kapitel wird die Spielwelt mitsamt ihrer Geschichte und der technologischen Errungenschaften erläutert. Das zweite Kapitel umfasst Regelergänzungen für „Fate Core“, also beispielsweise neue Stunts und Fertigkeiten sowie stilechte Ausrüstung. Die Archetypen werden im dritten Kapitel vorgestellt. Dann folgt mit dem vierten Kapitel schon der Spielleiterabschnitt, welcher sehr gut erklärt wie man ein typisches Steampunk-Abenteuer leitet. Neben weiteren Regel- und Kampagnenvorschlägen finden sich hier außerdem die NSC-Werte. Ich persönlich hätte zumindest letztere eher ans Buchende gedruckt, um unnötiges Rumblättern zu ersparen, aber dafür gibt es ja das Lesebändchen. Die Kapitel fünf und sechs sind die umfangreichsten Abschnitte des Buches und stellen die die verschiedenen Nationen (Kapitel 5) und besondere Schauplätze mitsamt Abenteuerideen (Kapitel 6) vor. Das letzte Kapitel bietet schließlich ein gut ausgearbeitetes Beispielabenteuer mitsamt Diagrammen und NSC-Profilen sowie einige weitere Szenariovorschläge. Es folgt noch ein vierseitiges Register, dann ist das Buch auch schon nach 214 Seiten zu Ende. Eigentlich schade, denn gern hätte ich noch viel mehr über die Welt und die Technologie erfahren, gerne hätten es auch nochmal doppelt so viele Seiten sein dürfen ;-)
Bei einem Setting-Band stellt sich mir immer die Frage: „Wie fühlt es sich denn nun eigentlich an?“. Um es kurz zu machen: Sehr gut! Die Welt an sich ist stimmig und komplex, die Regelerweiterungen sind passend, es wirkt einfach alles rund. Auf zwei Regelerweiterungen will ich noch gesondert hinweisen, welche die Liebe zum Detail in diesem Buch zeigen sollen: Zum Einen ist der Kampf mit Luftschiffen sehr gut ausgearbeitet, diese haben auch ein eigenes Profil mit eigenen Stunts. Dazu gibt es Regelvorschläge für typische Luftkampfsituationen wie Verfolgungsjagden und Entermanöver. Zum Anderen, und das gefällt mir persönlich sogar noch viel besser, wird eine Spielvariante vorgestellt in der man eine ganze Nation verkörpert. Krieg und Intrigen wie in „Game of Thrones“ sind hier also möglich, allerdings werden die Regeln ziemlich knapp beschrieben und auch der dazu passende Abenteuervorschlag hätte ruhig umfangreicher sein können.
„Eis & Dampf“ wurde vom „Uhrwerk Verlag“ publiziert und das sieht man mal wieder an der hervorragenden Qualität. Die flüssig lesbaren Texte sind sehr gut lektoriert und werden mit zahlreichen optisch hervorragenden, aber gelegentlich mehrfachen, Illustrationen aufgelockert. Das farbige B5-Hardcover ist gewohnt robust, man merkt hier einfach dass der Preis von 27,95 € (.pdf 14,99 €) durchaus gerechtfertigt ist.
Fazit: Ich muss mich jetzt eigentlich schon ziemlich beherrschen, um nicht in Jubelstürme auszubrechen. Denn selten habe ich ein Buch erlebt, welches so durchweg „rund“ war. Eine komplexe Spielwelt, sinnvolle Regelerweiterungen und Sonderregeln, qualitativ hochwertige Verarbeitung. Die wenigen Kritikpunkte sind so vernachlässigbar, dass ich - wenn es in diesem Blog eine Wertungsskala gäbe – voller Überzeugung die Höchstwertung vergeben würde :-D
Oder um es anders zu formulieren: Bekanntermaßen mag ich „Fate Core“ nicht, aber für diesen Setting-Band habe ich angefangen mich damit zu beschäftigen ;-)