Schaut man sich in einem beliebigen Online-Netzwerk um, egal ob Instagram oder TikTok, wird man vor allem mit zwei Werbebotschaften regelrecht zugeschissen: Pseudo-Alphas, die dich zu echten Machern machen wollen, und Esoterik-Tanten, die dir einreden wollen, dass du dir Depression und Einsamkeit einfach wegwünschen kannst... Welch wunderbarer Kontrast ist da Joris Mertens phantastischer Noir-Comic „Das große Los“! François ist ein typischer Vertreter der nach oben strebenden Unterschicht: Stets fleißig, nie einen Tag krank, rackert er sich schlecht bezahlt als Lieferfahrer einer Wäscherei ab. Nie gab es eine Lohnerhöhung, stattdessen droht er kurz vor der Pension von einem inkompetenten Neuling ersetzt zu werden, der nur über Vitamin B an den Job gekommen ist. Und auch privat ist sein Leben trostlos, denn wenn er nicht gerade in der Kneipe ein paar Biere zischt, erträumt er sich eine Zukunft mit der alleinerziehenden Kioskverkäuferin Maryvonne – Vielleicht auch nur platonisch, aber Hauptsache nicht mehr einsam! Sein Ausweg ist die Lotterie, doch seit 17 Jahren war seine stets gleichgebliebene Zahlenkombination erfolglos. Da ist die Verlockung umso größer, eine herrenlose Tasche voller Bargeld mitzunehmen, als er bei der Wäscheauslieferung zufällig den Schauplatz eines Verbrechens betritt... „Das große Los“ ist ein ungemein ruhig erzählter Comic, der sich sehr viel Zeit nimmt das trostlose Leben des Protagonisten darzustellen. Und dafür braucht Joris Mertens nicht viele Worte, denn er erzählt diese Geschichte mit ganz und gar phantastischen Zeichnungen. Wobei ich hier fast schon geneigt bin mich zu revidieren, denn eigentlich ist nicht François der Protagonist, sondern der Schauplatz Paris an sich. Selten hab ich eine so realistische Comic-Darstellung eines Großstadt gesehen! Und damit meine ich nicht, dass der Zeichenstil krass detailreich und detailgenau ist, sondern dass die irgendwie bedrückende Atmosphäre einfach unfassbar realistisch ist. Als jemand, der schon in einer Großstadt gelebt hat (und noch viel mehr besucht) und der früher ein überraschend ähnliches Leben wie François hatte (bis hin zu einer unterbezahlten, knochenharten Arbeit, bei der mit dem Auto und unfähigen KollegInnnen die Leute abklapperte – nur konnte ich mir im Gegensatz zu François nicht leisten in die Kneipe zu gehen ;-)), fühlte ich mich fast schon so getriggert, dass ich lauter emotionale Flashbacks aus dieser Zeit bekam. Wahnsinn, was Comic-Kunst emotional so bei mir anrichten kann! Umso großartiger ist es, dass der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat – mein großes Los des Tages :-D) diesen 144 Seiten starken Hardcover-Band im Großformat publiziert hat, damit man sich an den Zeichnungen gar nicht sattsehen kann! Das schlägt sich mit 35 € zwar auf den Preis nieder, aber bei so einem Comic-Meisterwerk geht das völlig in Ordnung. Daher mein regelrecht begeistertes... Fazit: Dank der phantastischen Atmosphäre ist „Das große Los“ (Link) tatsächlich ein großes Los der Comic-Kunst!
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