In ihrem wundervollen Song „WAMMW“ (Album „Geräusch“, 2003) singen „Die Ärzte“ von einer perfekten Welt, in der es nur noch Mädchen gibt – Außer dem Sänger natürlich ;-) Genau dieses Szenario erlebt in der französischen Graphic Novel „Insel der Frauen“, eingedeutscht vom Comic-Spezialisten „Splitter Verlag“, der verkrüppelte Maël. Ob diese Welt aber wirklich perfekt ist und ob diese Geschichte wirklich unterhält, verrate ich in meiner Rezension.
Die Handlung beginnt im Jahr 1914: Auf einer kleinen bretonischen Fischerinsel wohnt der künstlerisch begabte, aber unter seinem herrischen Vater leidende Maël. Sein trostloses Leben nimmt eine unerwartete, aber positive Wendung, als über Frankreich der 1. Weltkrieg hereinbricht – Denn alle wehrfähigen Männer werden eingezogen, nur Maël bleibt aufgrund seines Klumpfußes zurück. Doch auch er muss seinen Dienst fürs Vaterland leisten: Er wird zum Postboten der Insel. Anfangs trägt er noch pflichtbewusst die Briefe und Postkarten von der Front aus, doch schon bald siegt seine Neugier und er beginnt sie zu lesen. Hierdurch lernt er der freund- und fraulose Einzelgänger viel über die einzelnen Damen der Insel – Und beginnt sein Wissen einzusetzen, um diese einsamen Verlobten, Ehefrauen und Witwen zu verführen. Irgendwann ist er so von seinem Erfolg bei den Frauen besessen, dass er sogar Briefe fälscht um noch mehr einsame Insulanerinnen zu beglücken – Das kann auf die Dauer natürlich nicht gut gehen, doch Maël wird immer skrupelloser...
Im Fokus der Handlung steht weitestgehend Maël – Weitestgehend, weil es am Buchende noch eine Art abschließenden Epilog gibt, in welchem er nicht auftaucht. Jedenfalls wird er gleich zu Beginn als Außenseiter des Insel-Mikrokosmos präsentiert, dessen Berufung zum Briefträger ihm nicht nur als willkommene Fluchtmöglichkeit vor seinem Vater dient, sondern seinem Leben auch so etwas wie eine Sinnhaftigkeit verleiht. Mit zunehmender Annahme und „freier Interpretation“ seiner neuen Rolle gewinnt er Selbstbewusstsein, begehrt dabei auch gegen den herrischen Vater auf – Der erste Eindruck ruft danach, „Insel der Frauen“ als klassischen Entwicklungsroman/-Comic einzuordnen. Ich tue mich persönlich aber etwas schwer damit, da Maël im zunehmenden Handlungsverlauf stark soziopathische Wesenszüge an den Tag legt und, um seines eigenen Vorteils willen, gewissenlos Leute manipuliert. Auch wenn ich seine Handlungsmotivation dabei nachvollziehen kann, habe ich mich an mindestens einer Stelle im Buch ernsthaft gefragt, ob der Protagonist nicht doch eigentlich eher ein Antagonist ist. Ich persönlich finde solche vielschichtigen Charaktere jedenfalls großartig :-)
Dagegen verblassen natürlich all die anderen Nebenfiguren, welche zu kaum mehr als tüchtigen, aber liebebedürftigen Insulanerinnen stereotypiert werden. Selbst der offensichtliche Antagonist, nämlich der herrische Vater, bleibt viel zu blass gezeichnet – Was schade ist, denn hier hätte das Aufbegehren Maëls noch so viel mehr Dramatik entfalten können. Sehr gelungen ist dagegen die Verarbeitung der Kriegsthematik: Die Front ist ganz weit weg, doch ihre Auswirkungen werden dem Leser durch das anfängliche Fehlen sämtlicher Männer, später die Rückkehr der Versehrten und besonders aber den Inhalt ihrer verzweifelten Briefe (welcher gelegentlich in ein oder zwei Panels visualisiert wird) aufrührend näher gebracht. Der Autor Didier Quella-Guygot ist hier wirklich respektvoll mit dem schwierigen Thema umgegangen, sogar ganz ohne den überbordenden Patriotismus anderer französischer Autoren.
Doch auch Zeichner Sébastien Morize hat seine Arbeit sehr gut gemacht: Die auf den ersten Blick eher einfachen Zeichnungen werden durch die warmen Farben lebendig, ich war positiv überrascht wie viele Stimmungsnuancen er für die verschiedenen Szenen hinbekommen hat. Dabei schafft er es, die Nackt- und Sexszenen in einem angemessen Maße zu zeichnen, sodass sie zwar ansehnlich, aber keinesfalls explizit sind. Ebenfalls der Geschichte angemessen ist die sehr gute Druckqualität des 128 Seiten starken Hardcovers, für welches der „Splitter Verlag“ (welcher mit dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) absolut gerechtfertigte 19,80 € haben möchte.
Fazit: „Insel der Frauen“ (Link) ist ein herausragender Comic, welcher noch lange im Gedächtnis nachklingt – man muss ihn mehrmals lesen, um sich eine abschließende Meinung über Verführer und Verführte zu bilden – da er schwierige Themen wie Krieg(-sfolgen), Manipulation und Verrat gekonnt mit einer Art erotischem Entwicklungsroman verknüpft. Ein absoluter Kauftipp! Neben dem ebenfalls über die Liebe bretonischer Fischer handelnden „Ein Ozean der Liebe“ definitiv der beste Comic des Jahres!