Normalerweise werden Rollenspiele ja von Pen&Paper zum Videospiel portiert, beispielsweise „Shadowrun“ und natürlich eine ganze Menge „Dungeons & Dragons“. Seltener geht es aber auch umgekehrt, hier wäre „Dragon Age“ wohl ein ideales Beispiel. Und nun darf man auch einen weiteren Namen nennen: Mit „Deponia“ bringen das bekannte Rollenspiel-Autorenpärchen Mháire Stritter und Nicolas Mendrek zusammen mit Videospiel-Entwickler Jan Müller-Michaelis eine liebevolle Umsetzung und vor allem aber umfangreiche Erweiterung der bekannten Point&Click-Adventure-Trilogie. Nebenbei hat das Trio das vielleicht erste echte Hipster-Rollenspiel der Welt erschaffen...
Vermutlich muss ich jetzt gar nicht viel zur Spielwelt sagen: „Der Planet Deponia ist eine einzige, endlose Müllhalde. Schrott und Abfall soweit das Auge reicht.“ - Hier herrscht also die Müll-Apokalypse und zwar mit allen Klischees, die man sich so vorstellen kann: Mutanten! Zombies! Roboter! Monster! Barbaren-Gangs! Sekten! Hippies! Selbstverständlich befinden wir uns außerdem in einer zumeist lebensfeindlichen Umgebung, mit sich notdürftig reorganisierenden Strukturen. Und, ein wenig Sozialkritik muss auch sein, die elitären 1% Superreichen leben abgeschottet im Paradies (hier: Raumstation Elysium) und überlassen die restlichen 99% Müllhaldenbewohnern ihrem Schicksal.
Das ist von der Grundidee jetzt nicht sonderlich innovativ, Endzeit halt. Wie dieses Setting aber im umfangreichen Reiseführer-Teil des Buches (also der Spielweltbeschreibung) vorgestellt wird, ist im höchsten Maße lesenswert. Schon die Titel und Eigennamen regen mit zumeist gelungenen Verballhornungen zum Schmunzeln an (beispielsweise mit Ländernamen wie Drecksiko, Rostralien und Müllgolei). Dazu passend die locker-flockigen, selbstironischen Beschreibungen – Wirklich unterhaltsam! Selbst Nadine, welche die Videospiele überhaupt nicht kannte, hat diesen Reiseführer in einem für sie wirklich überraschend hohem Tempo durchgelesen. Und sie war danach so angefixt, dass ich ihr heute zum Nikolaus die komplette PC-Trilogie schenken musste ;-) Ich denke das sagt doch schon aus, wie lesenswert das Buch ist :-D
Vielleicht wird nun schon der ein oder andere Leser ungeduldig und will endlich wissen, was es mit dem Wort Hipster im Titel auf sich hat :-P Also wir haben in „Deponia“ inhaltlich schon mal lauter Hipster-Themen: Voll viel mit Öko und Umweltzerstörung, dazu Sozial- und Kapitalismuskritik. Und die Texte dann natürlich ironisch und auf gewisse Art selbstreferentiell. Da hol ich doch glatt meinen Jutebeutel raus :-D Passend dazu bietet „Deponia“ im Regelteil eine angepasste Version DES Hipster-Rollenspielsystems unserer Tage: „FATE“! Denn die wirklich coolen Kids – zu denen ich wohl nie gehören werde – wollen ihre Konflikte lieber erzählerisch mit Aspekten und Stunts lösen anstatt langweilig mit W20-Proben gegen einen Zielwert.
Ob man nun „Fate Trash“ mag oder nicht, ist einfach eine Geschmacksfrage. Ich bin für dieses System einfach nicht cool genug (oder zu unkreativ um es zu verstehen, egal wie viel Mühe sich die Autoren auch geben es zu erklären) und mag es daher nicht, trotzdessen möchte ich aber anerkennen dass die Autoren es sehr gelungen gelöst haben, mit ihrer angepassten Regelvariante typische Adventure-Spielelemente ins Rollenspiel zu integrieren. Beispielsweise gibt es Item-Karten, die man sinnvoll kombinieren oder in sein Inventar packen kann um sie später einzusetzen. Und, mein persönliches Highlight: Man kann einmal pro Sitzung abspeichern! Wenn man sich dann verrennt, kann man zum Speicherpunkt zurückspringen und neu rumprobieren.
Außerdem löblich: Für Spieler wie mich wird eine rein erzählerische Spielvariante angeboten, in der man nur über die Verwendung der Item-Karten interagiert und die Würfel weglässt. Damit wird aus „Deponia“ ein kartenbasiertes Improvisationspiel, was sicher auch absoluten Rollenspiel-Anfängern, die frisch vom PC-Spiel kommen, den Einstieg deutlich erleichtern wird. Auch Spielleiter-Einsteigern werden die ersten Versuche durch spezielle Tipps und Hinweise sowie ein ausgearbeitetes Abenteuer vereinfacht. Außerdem gibt es vorgefertigte Charaktere und 100 vorgedruckte Item-Karten (+ 25 blanke zum Selberausdenken) mit mal mehr, mal weniger nützlichen Gegenständen. Und eine riesige Weltkarte ist auch noch dabei, damit man den Spielern gleich mal zeigen kann in welcher Spielwelt man sich befindet.
Die gerade erwähnten Karten sind wie das gesamte Buch wieder in typischer „Uhrwerk Verlag“-Qualität. Das Hardcover ist stabil, durchgehend vollfarbig und mit meist gut lektorierten und gelayouteten Texten gefüllt. Außerdem gibt es zahlreiche stilvolle Bilder und Illustrationen, wobei allerdings einige verpixelt sind. Außerdem bietet das 240 Seiten starke Werk ein Lesebändchen. Und das für den Preis von 39,95 €, also (für mich als ehemaligen PC-Zocker erschreckenderweise) wesentlich günstiger als ein neues Videospiel. Die Preis/Leistung stimmt hier, gerade auch wegen der Welt- und Item-Karten, durchaus :-D
Fazit: Wenn man mal davon absieht, dass ich persönlich kein auf „FATE“-basierendes Regelsystem mag, ist dieses Buch eine Art Rundum-glücklich-Komplettpaket. Zumindest für Fans der Videospiel-Trilogie oder auch generell Rollenspiel(einsteig)er die sich mit Endzeit-Humor anfreunden können. Da auch die Preis/Leistung stimmt, zeichne ich „Deponia“ einfach mal als meinen persönlichen Weihnachtstipp 2015 aus!