...wird sich wohl auch die "Redaktion Phantastik" 2004 gedacht haben, als sie für die mittlerweile dritte Edition des viktorianischen Detektiv-Rollenspiels "Private Eye" ihren ersten Abenteuer- und gleichzeitig auch Quellenband veröffentlichten. Und offensichtlich bestand reger Bedarf an spannenden Mordfällen, denn lange Zeit war dieses Büchlein vergriffen. Nun hat man sich dann aber doch erbarmt und eine überarbeitete Neuauflage veröffentlicht. Na dann bin ich mal gespannt, ob sich das Warten gelohnt hat... Zu forderst gilt mein Dank dem Verlag, der mir dieses Rezensionsmaterial zur Verfügung gestellt hat. Und nun kann es wirklich losgehen ;-) "Private Eye" ist ein regelarmes Detektiv-Rollenspiel, welches zeitlich kurz vor der Jahrhundertwende im viktorianischen England angesiedelt ist. Die moderne Verbrecherjagd, wie man sie heute aus Serien wie "C.S.I." und "Bones" kennt, steckt noch in den Kinderschuhen. Stattdessen werden ganz im Stile von Sherlock Holmes Indizien gesammelt und Befragungen durchgeführt, bis durch schlaue Kombination und Deduktion der Verbrecher dingfest gemacht werden kann. Und genau solche Fähigkeiten werden bei einem Mord auf hoher See benötigt... (Achtung, auch wenn ich natürlich nicht den Mörder verrate, ein paar Spoiler kommen trotzdem :-P) In "Eine tödliche Wette" versucht der ehrenwerte Sir Eustace Thorndike mit seinem Schaufelraddampfer Indefatigable innerhalb von 20 Tagen England zu umrunden. Eigentlich keine allzu große Sache, wenn nicht - immerhin sind wir hier bei einem Detektiv-Rollenspiel - hintenrum krumme Dinger passieren würden! Erst versucht jemand das Schiff anzuzünden, dann werden die Wasservorräte kontaminiert und schließlich passiert ein Mord! Dagegen wirkt eine Reihe dreister Diebstähle an Bord fast schon harmlos ;-) Wie es sich für einen Krimi in der gehobenen britischen Gesellschaft gehört, passiert hier richtig ordentlich Drama :-) Nahezu jeder Passagier hat irgendwelche dunklen Geheimnisse wie Affären, Schulden oder gar Vaterlandsverrat! Das Schiff ist ein eigener kleiner Mikrokosmos, und durch die detailreichen Personenbeschreibungen zu Beginn des Abenteuers entwickelt sich eine spannende Gruppendynamik. Aber klar, wir wollen hier ja keine soziologische Studie betreiben, sondern einen Kriminalfall lösen. Beziehungsweise eigentlich drei Kriminalfälle (Sabotage, Diebstahl, Mord), deren Handlungen sich parallel entwickeln. Das klingt nun im Prinzip nach viel Arbeit für den Spielleiter, aber so schlimm ist es eigentlich gar nicht. Denn sowohl der Handlungsverlauf (Was passiert wann, welche Hinweise sind wichtig, wer hat welches Alibi etc.) als auch die Charaktere und die Handouts sind sehr gut ausgearbeitet. Außerdem ist die Limitierung des Handlungsortes, nämlich das eher kleine Schiff auf hoher See, natürlich für den Spielleiter ein Vorteil. Für die Spieler übrigens auch, gerade wenn sie sonst ganz London als Spielort haben und den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen ;-) (so geschehen beim 5. Abenteuer "Tiefe Wasser", allerdings ist der auch für erfahrene Spiel[leit]er gedacht) Neben diesem für Einsteiger sehr geeigneten Abenteuer gibt es noch einen Quellenband zur Weltausstellung in Chicago 1893. Sozusagen damit die Spieler raus kommen aus dem verstaubten England mit seinen strikten sozialen Konventionen und die weite Welt sehen ;-) Nun bin ich kein Historiker, aber ich vermute mal wenn ich diesen Text exakt so im Geschichtsunterricht vorgetragen hätte wäre mir die Note 1 sicher gewesen :-D Angeschlossen an diesen Quellenband ist dann auch noch der Beginn eines Abenteuers um einen kriminellen englischen Botschafter. Beginn eines Abenteuers deswegen, weil die Handlung sozusagen beim Mord endet und das Buch mir dann sagt "So Philipp, du hast jetzt alles über Chicago, die Weltausstellung und die Verfehlungen des Mordopfers gelernt, jetzt mach mal was draus!" :-P Also mehr so eine Abenteueridee, aber solche Anregungen sind ja typisch für viele Quellenbände. Für den Preis von 13,95 € bekommt man ein 56-seitiges Softcover in Klebebindung. Der vorne wie hinten ausgesprochen hübsche Umschlag ist farbig, der schwarz/weiße Innenteil zweireihig mit zahlreichen Abbildungen. Diese gefallen mir allesamt sehr gut, lediglich bei einigen historischen Fotos ist die Auflösung ein wenig grobkörnig. Ihren Zweck, nämlich die Vermittlung der historischen Atmosphäre, erfüllen sie aber vollkommen. Was ich noch besonders herausheben möchte ist der sehr flüssig lesbare Schreibstil, hier haben Autor und Lektorat wirklich gute Arbeit geleistet :-) Fazit: Der chronologisch erste Abenteuerband ist meine bereits drittes "Private Eye"-Erweiterung und gefiel mir von diesen bisher am Besten. Ein spannender Kriminalfall, der Einsteigern wie Profis für zwei bis drei Spielsitzungen viel Freude bereiten wird. Dazu noch interessante Infos über die Weltausstellung nebst pfiffiger Abenteueridee. Das Preis-/Leistungsverhältnis ist für so ein Nischensystem auch in Ordnung, daher gibt es eine Kaufempfehlung. Gut, dass dieses Abenteuer neu aufgelegt wurde :-D PS: Weil es auch im Buch selbst angesprochen wurde, möchte ich hier auch nochmal auf die sehr gute Portierbarkeit in andere Systeme wie "Call of Cthulhu", "Midgard 1880" und - wie ich es letztens tat - "Savage Worlds" hinweisen.