Der „Goldene Stephan“ a.k.a. PEN&P (Link) birgt ja jedes Jahr ein paar Überraschungen. Wobei überraschungstechnisch die Comic-Kategorie zumeist ganz weit vorn ist, da eher selten die üblichen Verdächtigen (Superhelden-Kram von „Panini“ und franko-belgische Qualitätsware von „Splitter“) gewinnen. Stattdessen sind es eher die absoluten Nischen-Produkte, wie dieses Jahr etwa „Runa“ auf Platz 1 und eben „Enceladus“ auf Platz 2. Wobei der zweitplatzierte Titel zwar einerseits ziemlich unter dem Radar des Comic-Mainstreams flog, aber andererseits auf einem Erfolgsroman des Erfolgsautors Brandon Q. Morris basierte. Und der schreibt tolle Romane – Aber wird daraus auch eine tolle Graphic Novel?
Die Geschichte bleibt natürlich gleich: Vom Saturnmond Enceladus sendet in naher Zukunft eine Forschungssonde erste Hinweise auf potentielles Leben. Also reißt sich die Menschheit ausnahmsweise mal an den Riemen und klöppelt in aller Eile ein Raumschiff zusammen, damit schon eineinhalb Jahrzehnte später die erste Weltraummission starten kann. Und irgendwie merkt man dann auch recht schnell, dass diese Expedition mit der heißen Nadel gestrickt wurde, denn aller 5 Minuten gibt es ein lebensbedrohliches Problem ;-)
Okay, das war jetzt etwas überspitzt formuliert, aber tatsächlich besteht die erste Hälfte der 105 Seiten starken Graphic Novel aus einer Aneinanderreihung von Problemen. Interessanterweise, und hier hebt sich Morris von vielen anderen Schreibenden ab, sind die eigentlichen Besatzungsmitglieder das geringste Problem. Wenn man mal von einer ungeplanten Schwangerschaft absieht, verhalten sich die US-Biologin Amy, der japanische Bordingenieur Hayato, der russische Bordarzt Dimitri, die chinesische Taikonautin Li, der deutsche Programmierer Martin und seine italienische ESA-Kollegin Francesca selbst in der größten Drucksituation absolut professionell. Nein, das Problem ist die Mission an sich und die zur Verfügung gestellte Technik. Immer mal wieder geht was kaputt oder die Zahnräder des Expeditionsfahrplanes greifen einfach nicht ineinander... Und das ist ungemein spannend, denn man merkt, wie viel Expertise der Physiker Morris hier in die Geschichte einbringt. Das ist wirklich knallharte Hard-SciFi, dagegen wirken andere Subgenre-Vertreter wie mein geliebtes „The Expanse“ wie reinste Fantasy ;-)
Ohne jetzt zu spoilern, in der zweiten Hälfte haben sie es dann trotz aller Widrigkeiten bis nach Enceladus geschafft. Ein bemanntes Forschungstauchboot bohrt sich durch den dicken Eismantel, um im unterirdischen Ozean nach Leben zu suchen. Hier wird es dann doch ein wenig phantastisch, aber nie so sehr, als dass man von einem Subgenre-Wechsel sprechen müsste. Natürlich treten erneut lebensbedrohliche Probleme auf, aber auch hier glänzt Morris (der mir übrigens ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) wieder mit absolut intelligenten Figuren, die nachvollziehbare und wissenschaftlich fundierte Entscheidungen treffen. Man fiebert wirklich mit ihnen mit, denn auch wenn sie recht flach charakterisiert wurden, verhalten sie sich doch zu jedem Zeitpunkt schlau. Das ist eine wohltuende Abwechslung zu anderen Schreibenden, die ihre Figuren der Spannung wegen bewusst dumme Dinge tun lassen :-P
Zeichnerisch muss sich „Enceladus“ ebenfalls nicht vor der Großverlagskonkurrenz verstecken. Also klar, das ist jetzt keine absolute Spitzenklasse (besonders manche Gesichter missfallen meinem persönlichen Geschmack), aber für ein Indie-Projekt taugt die gebotene Leistung absolut! Gerade durch die Kolorierung wirkt das alles sehr atmosphärisch :-) Zwei Kritikpunkte habe ich aber trotzdem, und davon hat sogar einer mit den Zeichnungen zu tun: Hier sind manchmal viel zu viele Panels auf einer Seite, weshalb die Sprechblasen winzig und damit teilweise echt schwierig zu lesen sind – Selten brauchte ich so eine gute Zimmerbeleuchtung zum Lesen einer Bildergeschichte :-( Und die Sprechblasen haben noch ein ganz anderes Problem: Schreibfehler! Ich weiß nicht, vielleicht ist die falsche PDF-Datei an die Druckerei gegangen, denn immerhin gab es laut Impressum sowohl Korrektorat als auch Lektorat, aber so eine Fehlerhäufung hab ich schon lange nicht mehr gelesen. Schade, denn das drückt ein wenig das eigentlich gute...
Fazit: „Enceladus: Die Graphic Novel“ (Link) ist prinzipiell ein sehr beeindruckendes Indie-Projekt von einem der beeindruckendsten Selfpublishing-Autoren im SciFi-Genre. Ich mag es sehr, ich will es sogar lieben – Aber die zu kleinen & zu fehlerhaften Sprechblasen entreißen mir jedes Mal meine rosarote Brille :-( Bei einem fast 40 € teuren Comic erwarte ich in dieser Hinsicht einfach mehr für mein Geld. Rein zeichnerisch und inhaltlich ist das aber wirklich gute Hard-Scifi!