Das düstere Urban Fantasy-Spielbuch „Somorra: Stadt der Lüge“ (Link) war beim letztjährigen PEN&P („Goldener Stephan“) ja der große Überflieger, auch in keiner anderen Spiele-Kategorie bekam ein Titel so viele Stimmen. Klar, dass die Erwartungen an den Nachfolger da entsprechend hoch sind ;-) Na mal schauen, ob die Sußner-Brüder sich einfach auf ihren Lorbeeren ausgeruht haben oder ob sie vielleicht sogar die Schwachpunkte des Vorgängers ausmerzten...
Mit dem verkommenen Somorra bleibt der Handlungsort auch im 2. Band gleich – Wenn die Großtadt nicht so korrupt und abgeranzt wäre, könnte man hier fast vom wohligen Gefühl des Heimkommens reden :-P Eine Drogen-Epidemie zerfrisst die Gesellschaft, denn das sogenannte Somorin macht schon beim ersten Schuss süchtig und erleichtert es zusätzlich auch noch dem Schrammenschreck, sich seine Opfer zu holen. Der tritt zwar eigentlich nur in Alpträumen auf, aber wenn er dort jemanden in seine Klauen bekommt, ist man auch im echten Leben tot – Ziemlich doof, da müsste doch mal wer was gegen machen, oder? Und genau das ist die Aufgabe der LeserInnen dieses Solo-Spielbuchs: Nachdem man sich anfangs aus einer Nervenheilanstalt befreit hat, wird man von einem mysteriösen Priester damit beauftragt, dem fürchterlichen Schrammenschreck selbst das Fürchten zu lehren. Dafür wird man quasi eine Art Monsterjäger, der in die alptraumhafte Zwischenwelt hinabsteigt und sich dort immer mehr Wissen (z.B. zur Systematik von Monstern) und Ausrüstung (z.B. Silberwaffen und Weihwasser) aneignet, um letztlich den finalen Kampf gegen den Schrammenschreck zu bestehen. Dabei findet dieser, wie alle Kämpfe im Buch, nicht mit klassischen Würfelorgien statt (wie man es beispielsweise bei den „Einsamer Wolf“-Spielbüchern (Link) macht), sondern durch die richtige Auswahl der Vorgehensweise bzw. Waffe. Beispielsweise, das sollte für die meisten Fantasy-Fans kein großer Spoiler sein, funktionieren Silberwaffen super gegen Werwölfe, während normale Waffen versagen.
Also ein prinzipiell simples Regelsystem – genau wie das altbekannte „Willst du nach links, lies bei Abschnitt ABC weiter; willst du nach rechts, lies bei Abschnitt XYZ weiter!“-Spielbuchkonzept – welches jedoch mit allerlei spannenden Ideen aufgelockert wurde. Mein persönliches Highlight ist dabei die Notwendigkeit, dass man nicht zu lang einschlafen darf, weil einen dann der Schrammenschreck holt. Um dies zu vermeiden muss man die jeweiligen Abschnitte ganz genau durchlesen, denn sobald etwas Verdächtiges passiert oder man ein schwarzes Tier sieht, sollte man schnell zum Aufwachen-Abschnitt blättern, sonst ist es ab einem bestimmten Zeitpunkt zu spät und man stirbt – Was bei mir dazu geführt hat, dass ich übermisstrauisch war und gefühlt bei jedem zweiten Abschnitt panisch umgeblättert habe, weil ich dachte, dass ich träume ;-) Denn es gibt hier, wie schon im Vorgängerband, wieder viel zu viele Gelegenheiten um in die Fänge des Schrammenschrecks zu geraten oder um auf irgendeine andere Art & Weise zu sterben: So ich mich nicht verzählt habe, knapp 100 Todesabschnitte bei einem Spielbuch mit 600 Abschnitten. Zwar gibt es eine Art „Speicherpunktsystem“, bei dem man zur Stelle der falschen Entscheidung zurückgesetzt werden kann, aber trotzdem hätten es gern ein oder zwei Tode weniger sein dürfen, damit ich mich nicht so oft über meine falschen Entscheidungen ärgere :-P
Spielmechanisch ansonsten noch interessant ist natürlich das Erlernen der verschiedenen Monstertypen. Steht man einem solchen gegenüber, bekommt man oft nur einen Teil der Informationen (z.B. ob es einen Schatten wirft oder in welcher Farbe die Augen leuchten), sodass man dann wie früher im Biologie-Unterricht über die systematische Deduktion das Monster identifizieren und bekämpfen muss. Beziehungsweise auch mal in Ruhe lassen, denn die Munition ist arg knapp und nicht jedes Monster ist gefährlich. Gefallen hat mir außerdem – aber das kennt man mittlerweile ja aus vielen der „modernen“ Solo-Spielbücher aus dem „Mantikore Verlag“ – dass viel über Kennwörter gearbeitet wird, die mit Abschnittsnummern verknüpft sind. Je nach Entscheidung werden diese dann mit neuen Abschnittsnummern verknüpft, sodass das eigenen Handeln durchaus Konsequenzen hat – Zumindest gefühlt, denn bei aller spielerischen Freiheit ist „Somorra – Stadt der Träume“ doch überwiegend linear. Linearer sogar als der Vorgängerband, bei dem man im zweiten Kapitel merklich freier agieren konnte. Hier kommt dann tatsächlich wieder der Kritikpunkt, den ich bereits im Vorgängerband anbrachte, und da zitiere ich mich mal selber: „Macht halt nen richtigen Roman draus, denn schreiben könnt ihr, anstatt mich hier immer wieder mit unnötigen Entscheidungsmomenten aus der intensiven Immersion rauszureißen!!!111einself“ :-D Denn das beweisen die Sußners mit ihrem wirklich guten Schreibstil immer wieder: Sie können atmosphärische Texte schreiben! Und was für welche!
Und dieser Schreibstil rettet dieses Spielbuch dann auch davor, dass ich es im Vergleich zum Vorgängerband schlechter bewerte. Denn gerade das zentrale 2. Kapitel enttäuscht (wenn auch auf sehr hohem Niveau) gerade dadurch, das es eben nicht bietet, was man von einem Buchtitel mit „Stadt der...“ im Namen erwartet: Anstatt düsterer Urban Fantasy (das Highlight im spielmechanisch schwächeren Vorgängerband und auch im großartigen 1. Kapitel dieses Bandes) gibt es dort nämlich eher generisch wirkende Dark Fantasy mit Religionsbezügen, die mich nicht so sehr gepackt hat, wie es der Schauplatz Somorra schafft. Nichtsdestotrotz hab ich dieses Spielbuch verschlungen, es macht ja auch wirklich Spaß, aber das zweite Kapitel hat mich eher an ein „Einsamer Wolf: Die neuen Kai-Krieger“ (Link) erinnert – Nur halt mit dem riesigen Unterschied, dass die Sußners viel besser schreiben können :-) Daher sollten sich Spielbuch-Fans auch diesen Band holen (oder besser gleich beide Bände, denn es gibt hier ein paar Eastereggs für KennerInnen des Auftaktbandes), denn mit 14,95 € für 600 Spielbuchabschnitte beziehungsweise 472 Seiten kann man eigentlich nix falsch machen.
Fazit: „Somorra – Stadt der Träume“ (Link) ist, genau wie sein Vorgänger, ein wirklich gutes Spielbuch. Spielmechanisch ist es sogar deutlich besser, mir persönlich hat der Genre-Wechsel von Urban Fantasy hin zu Dark Fantasy aber nicht so gefallen. Trotzdem aber eine Empfehlung, das ist eines der besten Spielbücher dieses Jahr!