Bei allen Kritikpunkten, die man so an der Europäischen Union haben kann (ganz aktuell, während ich diese Rezension schreibe, etwa zum Stichwort Moria), muss man ihr doch zugestehen, dass wir durch sie in einer beispiellosen Ära des Friedens und des Wohlstands leben. Ein Grund dafür ist zweifelsohne auch die rasche (und noch immer voranschreitende) Aufnahme ehemaliger Ostblock-Staaten. Klar, dass das dem sowjetischen Nachfolgestaat Russland nicht wirklich gefällt – Wie er mit allerlei Fakenews-Propaganda und auch militärischen Interventionen versucht, die Europäer wieder zu spalten, kann man nun in „Europe Divided“ nachspielen.
„Europe Divided“, ins Deutsche lokalisiert vom CoSim-Spezialisten „Udo Grebe Gamedesign“ (Link zu einem spannenden Interview), ist eine strategische, asymmetrische Politiksimulation für zwei Personen. Auf der Seite Russlands oder auf der Seite der EU & NATO versucht man die ehemaligen Ostblock-Länder in den 1990ern bis 2010ern auf seine Seite zu ziehen und nebenbei noch historische Ereignisse (z.B. den Kosovokrieg und die Orangene Revolution) zu gewinnen. Dabei durchläuft man insgesamt 20 Spielzüge, von denen die ersten 10 die neue Weltordnung (1992 – 2008) und die letzten 10 den neuen kalten Krieg (2008 – 2019) symbolisieren. Ein Zug läuft dabei immer gleich ab:
1. Die beiden SpielerInnen wählen verdeckt zwei Aktionskarten, welche zusammengerechnet ihre Initiative bestimmen. Wer den höheren Initiativwert hat, darf beginnen. 2. Auf jeder Aktionskarte sind verschiedene Aktionen und deren Kosten aufgedruckt. Mögliche Aktionen sind das Legen von Einfluss, daher das Platzieren eines Würfels auf eine umstrittene Ostblock-Region. Der Einfluss beginnt beim Wert 1 und kann über die Aktion der Erhöhung bis auf den Wert 6 gesteigert werden. Oder man kann eine Armee aufstellen und sie mittels Bewegungsaktion in ein Nachbarland einmarschieren lassen. Das kostet natürlich eine ganze Menge Euro beziehungsweise Rubel, sodass man als Aktion auch Geld erhalten kann. Manche Karten erlauben zudem das Ausspielen einer Spezialaktion, beispielsweise könnte man mit einem Einflusswert von 6 in Ungarn in allen anderen Visegrád-Staaten seinen Einflusswert um 2 erhöhen. Oder mittels Propaganda-Aktion darf man gleich drei Einflusssteigerungen durchführen. 3. Anschließend werden noch Effekte und Reaktionen abgehandelt. Beispielsweise, wenn Russland seine Armee in Weißrussland aufstellt, bedroht er damit auch das Baltikum und erhöht seinen Einfluss damit um 1 (Effekt). Die Balten finden das aber gar nicht toll und erlauben, dass die NATO dort eine Armee als Schutz platziert (Reaktion).Aber wozu das Ganze? Natürlich für Prestige, also Siegpunkte ;-) Jeweils einen gibt es, wenn man am Ende der beiden Zeitperioden (also nach Runde 10 und 20) in einer umstrittenen Region einen Einflusswert von 6 besitzt. Zudem erhält man bereits ab einem Einflusswert von 5 eine regionsspezifische Aktionskarte, die durchaus mächtig sein kann. Aber ein Prestige-Punkt ist zugegebenermaßen nicht viel – Wirklich lohnenswert ist dagegen das Erfüllen von historischen Ereignissen (hier „Schlagzeilen“ genannt). Jede Runde werden zwei neue Schlagzeilen aktiv, welche zumeist die Dominanz oder Militärpräsenz in einer oder mehreren Regionen erfordern. Das ist mitunter schwieriger als das bloße Pushen des Einflussmarkers (besonders für die West-SpielerInnen, da sie ihre Aktionen sowohl auf die EU als auch auf die NATO aufteilen müssen), dafür gibt es aber auch mehr Prestige-Punkte und mitunter auch frisches Geld. „Europe Divided“ ist prinzipiell kein schwieriges Spiel. Klar ist es anspruchsvoll, aber die Grundmechanismen hat man in einer viertel Stunde verinnerlicht. Gerade auch, weil sehr viele der Karten und Symbole selbsterklären sind. Zudem ist das (mit einigen wenigen Lektoratsfehlern versehene) Regelheft eben nicht so stumpfsinnig kleinteilig wie bei einer CoSim aufgebaut, sondern farbenfroh und mit vielen Beispielen wie bei einem „ganz normalen Eurogame“ ;-) Das senkt, trotz der hochpolitischen Thematik, definitiv die Einstiegshürde. Also ein großer Fortschritt gegenüber den anderen Regelbüchern von „Udo Grebe Gamedesign“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben) – Aber ganz idiotensicher sind die Regeln dann leider doch nicht, wie eine ganze Reihe an Regelfragen in einschlägigen Brettspielforen beweisen. Ich selbst hab mich ausgerechnet mit dem Spielaufbau etwas schwerfällig getan, aber als es dann lief, lief es wirklich fluffig :-D Denn das Spielkonzept ist sehr eingängig und, obschon man zwei total verschiedene Fraktionen spielt (die Russen besetzen alles mit ihren Armeen, damit die Europäer ihren Einflusswert nicht auf 6 erhöhen; dem gegenüber müssen die Europäer ihre Aktionen auf EU und NATO aufteilen, dafür können sie sich finanziell eine weitläufige Diplomatie leisten), wirkten meine persönlichen Testrunden sehr ausgeglichen und historisch gesehen auch sehr authentisch. Mit etwas mehr Spielerfahrung soll der Sieg laut diverser Brettspielforen zwar für Russland schwieriger werden, nach drei Testrunden konnte ich das aber noch nicht bestätigen. Kurzgefasst würde ich „Europe Divided“ wohl als CoSim-Wolf im Eurogame-Schafspelz bezeichnen, sowohl was die Komplexität als auch das Regelheft angeht. Auch preislich ist es mit knappen 50 € eher im unteren CoSim-Bereich beziehungsweise höheren Eurogame-Bereich verortet. Dafür bekommt man neben den obligatorischen Pappplättchen (ca. 90 Stück) insgesamt 36 Würfel, 40 große und 60 kleine Spielkarten, ein 20seitiges Regelheft nebst zwei Spielhilfen sowie natürlich das stabile Pappspielbrett. Das alles in einem wirklich ansprechenden, weil kühl-rationalen Design :-) Hochgerechnet auf die vielen Spielstunden, die man damit haben wird (ein komplettes Spiel würde ich auf unter 90 Minuten verorten, und wegen der asymmetrischen Bedingungen ist man rasch bei einem Revanche-Match mit vertauschen Fraktionen ;-)), geht der Preis gerade im Hinblick darauf, dass „Udo Grebe Gamedesign“ ein winziger Indie-Kleinverlag ist, völlig in Ordnung. Fazit: „Europe Divided“ (Link) ist ein CoSim-Wolf im Eurogame-Schafspelz :-D Eine insgesamt überraschend einsteigerfreundliche, asymmetrische Politiksimulation für Freunde der jüngeren Weltgeschichte. Eine aufrichtige Kaufempfehlung!