Mittelalter-Comics hab ich in den letzten Jahren ja dutzendfach gelesen – Und manchmal waren da echte Goldstückchen dabei, gelegentlich gab es aber auch Totalausfälle. Gemein hatten sie allesamt, dass es sich eher weniger um historisch korrekte Geschichtsgeschichten (was für ein Wort ;-)) handelte, sondern meist um mittelalterliches Fantasy oder wenigstens dramatisierte Um- und Neuinterpretationen bekannter Persönlichkeiten oder Ereignisse. Letztere Variante trifft nun auch auf „Wilhelm der Hebräer“ zu, welcher sich Wilhelm von Aquitanien als Inspirationsquelle nimmt. Kurz vor seinem Tod schreibt der alte Klosterbruder Bernardo seine Lebensgeschichte auf – Oder besser die Lebensgeschichte von Wilhelm dem Hebräer, dessen Leibeigener Bernardo bei der Belagerung von Cardona wird. Eben dieser Wilhelm, den viele irgendwo zwischen verächtlich und ehrfurchtsvoll Hakennase nennen, belagert diese Burg jedoch nicht mit blanker Gewalt (obwohl seine Truppen ziemlich kampfstark sind, wie sich später noch herausstellen wird). Stattdessen täuscht er die Besatzung mit einer List und kann sie somit zu einer Nichtangriffsverpflichtung überreden. Mittel zum Zweck ist dabei die promiskuitive Franken-Königin Witgar, die dorthin vor ihrem brutalen Ehemann – dem König von Burgund – floh. Und ausgerechnet sie, in die Wilhelm auch mehr als nur ein kleinwenig verliebt ist, ist sein eigentlicher Auftrag: Als Vertrauter von König Karl dem Großen soll er die untreue Ehefrau gefangennehmen und dem königlichen Gericht überführen... Das macht er zwar pflichtbewusst, doch führt seine entflammte Liebe zur Witgar letztlich zum Bruch mit Karl dem Großen – Und Wilhelm muss sich mehrfach entscheiden, ob ihm seine Treue und sein Pflichtgefühl wichtiger sind als die Liebe. „Wilhelm der Hebräer“ umfasst drei Kapitel, die sich auf 88 Seiten verteilen (abzüglich zehn Seiten Bonusmaterial). Im ersten Kapitel überwältigt er die sarazenische Burgbesatzung mit einer List, außerdem lernt man den erzählenden Mönch Bernardo kenne. Im zweiten Kapitel wird die untreue Königin Witgar zurück zu Karl dem Großen gebracht, was sich aber gar nicht mal so einfach herausstellt, weil sich ihr Ehemann mitsamt seiner Armee in den Weg stellt. Im dritten und letzten Kapitel eskaliert die Situation dann zusehends, sodass sich nicht nur Witgar, sondern auch Wilhelm vor dem königlichen Gericht verantworten muss... Das klingt jetzt in der Zusammenfassung schon ein wenig spannend und das ist es theoretisch auch – Aber „Wilhelm der Hebräer“ krankt an allen Ecken und Enden an seiner schwachen Figurencharakterisierung: Wirklich viel erfährt man nicht von den handelnden Personen (primär Wilhelm, der auch mal ein wenig an seiner Sympathie arbeiten könnte ;-)) und wenn doch, dann teils so spät, dass man den Comic eigentlich noch einmal lesen müsste, um ihn vollständig zu verstehen. Nebenfiguren wie etwa Erzähler Bernardo, in den allermeisten Fällen noch unsympathischer als Wilhelm und Witgar, treten nur als Stichwortgeber auf oder um die Handlung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Beispielsweise gibt es einen Kurzauftritt von Wilhelms Ehefrau, die er mal vergewaltigt hat, nachdem er ihren Vater enthauptet hat – Wie gesagt, der Wilhelm ist nicht wirklich ein Sympathieträger. Jedenfalls will sie jetzt aber trotzdem mit ihm schlafen, aber da Wilhelm nicht will, zaubert sie zwei Attentäter hinter dem Gardinen hervor... Echt jetzt? Und den großen Gerichtsprozess um die Untreue von Witgar, auf welchen die gesamte Geschichte hinarbeitet, handwedelt Wilhelm am Ende mit einem „Hey Karl, erinnerst du dich noch, als wir wie echte Bros gemeinsam bei der Sachsenkönigin geweint haben?“ hinfort – Der Autor Jerome Charyn liefert hier halt wirklich kein gutes Storytelling :-( Umso besser sind dafür die Zeichnungen von Emmanuel Civiello, welche fast durchgehend an Gemälde erinnern. Lediglich bei Gesichtern hat er doch recht große Probleme, da gleitet er manchmal ins karikaturhafte ab. Aber jedes Bild einzeln für sich betrachtet könnte man sich so als Kunstgemälde in die Wohnung hängen, das kann man wahrlich nicht von jeder ComiczeichnerIn sagen :-D Toll abgeliefert hat auch wieder der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), sodass dank der guten Druckqualität der Preis von 19,80 € für 88 Seiten für Mittelalter-Fans als akzeptabel anzusehen ist. Fazit: Ich will nicht um den heißen Brei drumherum reden: „Wilhelm der Hebräer“ (Link) ist ein absoluter Blender! Hinter der äußert ansprechenden Comic-Fassade verbirgt sich lediglich eine mittelmäßige Mittelaltergeschichte, die primär an ihrer schwachen Figurencharakterisierung krankt. Wirklich schade um die schönen Zeichnungen :-(
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