Pseudohistorische Fantasy-Geschichten, gerne auch mit übernatürlichen Okkult-Verschwörungen, scheinen im franko-belgischen Raum ja ziemlich beliebt zu sein. Zumindest kommt da regelmäßig neues Comic-Material her – Und meistens ist es nicht wirklich gut :-( Auch der kleine Augsburger Verlag „Bunte Dimensionen“ hat in dieser sehr beliebten Genre-Nische, nämlich mit der mit „Millennium“ sehr vergleichbaren Reihe „Die Macht der Archonten“ (Link), schon mal ziemlich daneben gegriffen. Aber zweimal macht doch niemand den gleichen Fehler, oder?
Die unter dem „History“-Label laufende, aber thematisch eher in Richtung Dark Fantasy (mit einem zarten Hauch SciFi) ausgerichtete Reihe umfasst aktuell sechs Bände. Diese sind zwar durch einen Meta-Plot miteinander verbunden, aber gerade die ersten vier Bände handeln eher das „Monster of the Week“ ab und sind damit durchgehend für sich alleinstehend lesbar. Die Reihe begleitet den sächsischen Reliquienhändler Raedwald, der kurz vor dem ersten Jahrtausendwechsel zwischen die Fronten eines politischen Konflikts gerät. Denn intrigante Sylphen, machthungrige Könige und ein noch machthungrigerer Papst kämpfen um die Vorherrschaft in Europa!
1. 997 n. Chr.: Ein königlicher Konvoi wird von blutrünstigen Banditen überfallen. Ihr Ziel ist die Ermordung des unehelichen Königssohns und seiner Mutter. Das gelingt auch, doch ein Zeuge überlebt das Massaker, wenn auch mit schwersten Verbrennungen. Der Reliquienhändler Raedwald der Sachse und sein treuer Kumpan Arnulf kommen kurz darauf zufällig am Tatort vorbei. Als sie das Gesehene dem Grafen Dagbert melden, bekommen sie den Auftrag, den schwerst verletzten Zeugen irgendwie am Leben zu halten, damit er befragt werden kann... Da kann nur ein Wunder helfen, doch zum Glück weiß Raedwald, dass sich eine Reliquie des heiligen Polykarp in einer nahegelegenen Abtei befindet. Doch irgendwie hat der Heilige keine Lust, seine Wunder zu wirken, denn in der Abtei ist eine große Sünde geschehen... Raedwald muss diesen Kriminalfall rasch lösen, denn Die Hunde Gottes (Link) sind ihm auf den Fersen!
2. Ein Jahr später sind Readwalds Heldentaten bis zum Papst vorgedrungen, welcher sogleich einen wichtigen Auftrag hat: Eine Truhe, die Petrus höchstpersönlich aus Palästina herausgeschmuggelt hatte, soll Die Schädel der Engel (Link) von Sodom enthalten. Und da Readwald der Beste seines Berufsstandes ist, soll er diese unermesslich wertvollen Reliqiuen, welche aktuell dem englischen König Ethelred gehören, in seinen Besitz bringen – Ganz egal, welche Mittel er dazu einsetzt!
3. Natürlich meistern Readwald und Arnulf auch diese Aufgabe, doch auf ihrer Rückreise geraten sie in eine mysteriöse Nebelbank. Der Odem des Teufels (Link), wie die Seefahrer dazu sagen, spuckt ihr Schiff dann auch plötzlich an der skandinavischen Küste aus – Nur, damit es dann gleich von einem Kraken zerstört wird... Wikinger retten die Schiffbrüchigen, was sogleich eine politische Intrige auslöst, welche Readwald mal wieder mit seinem kriminalistischen Spürsinn lösen muss.
4. Durch Zufall gelangt Readwald an ein jahrhundertealtes Manuskript, was bisher niemand lesen konnte. Aber als echter Netzwerker kennt er natürlich jemanden, der jemanden kennt, der altes Aramäisch entziffern kann... Und damit tritt er eine Lawine an Ereignissen los, denn Die vergifteten Evangelien (Link) würden die Bibel umschreiben und zugleich den historischen Einfluss der Sylphen beweisen! Bevor Readwald aber die Fundamente des Abendlandes erschüttern kann, muss er erst einmal seine eigene Haut retten: Sein wichtigster Hehler – der alle schmutzigen Geheimnisse von Readwalds Reliquienhandel kennt – wird vom Grafen im Folterkeller verhört, da er angeblich Kinder geraubt und verkauft hat. Gemeinsam mit seinem Kumpan Arnulf und seiner Liebschaft Rowena muss Readwald beweisen, dass sein Hehler nur das Opfer eines antisemitischen Komplotts ist.
5. Der mutmaßliche Weltuntergang zum Jahrtausendwechsel steht bald bevor. Als armer Mann will Readwald aber nicht sterben, deshalb fordert er in Rom die 50 Märtyrer-Skelette ein, die ihm im 2. Band vom Papst als Bezahlung versprochen wurden. Doch er kann es nicht lassen, seine Nase weiterhin in alte Dokumente zu stecken, welche den Einfluss der Sylphen auf die Menschheit beweisen sollen – Was ihn in allerlei Schwierigkeiten bringt, denn Der Schatten des Antichristen (Link) legt sich über die Welt!
6. Ein wohlhabender Baron hat daran Interesse, Readwald all die alten Manuskripte abzukaufen. Also reist er mit Arnulf nach Sizilien, wo er nicht nur auf den neugierigen Käufer trifft, sondern auch noch auf Das Waisenkind von Catania (Link). Sie ist die sehr eigenwillige Adoptivtochter des Barons und sorgt für allerlei diplomatische Verwicklungen, welche die normannische Vormacht auf der Insel brechen könnte – Ist sie vielleicht sogar eine Agentin der Sylphen? Oder gar schlimmer, der Mohammedaner?An der Inhaltsbeschreibung erkennt man bereits, dass es sich hier – entgegen mancher Einordnung in Fanforen/-gruppen – nicht um einen realistischen Historien-Comic handelt. „Millennium“ vermischt großzügig die Zeit kurz vor der Jahrtausendwende (welche in ihrer antisemitischen, brutalen Untergangsstimmung sehr toll wiedergegeben wird) mit allerlei mythischen Wesen (beispielsweise Trollen und Ghulen) und den, wenn auch eher spärlich im Meta-Plot auftauchenden, SciFi-Sylphen. Das ist, gerade weil auf dem Buchrücken in Großbuchstaben „History“ drauf steht, anfangs eher befremdlich (ich war kurz irritiert, als ungefähr nach der Hälfte des ersten Bandes plötzlich ein Monster auftauchte und später dann die Polykarp-Reliquie loszauberte), doch spätestens im zweiten Band hat man diese Genre-Vermischung dann akzeptiert :-) Und wenn man sich endlich darauf eingelassen hat, dann machen besonders die ersten vier Bände mit ihrem jeweiligen „Monster of the Week“ wirklich viel Spaß! Das liegt vor allem auch an den gut miteinander harmonierenden Protagonisten. Arnulf und ganz besonders Readwald sind echte Antihelden, die zwar letztlich immer wieder für das Gute und die Wahrheit kämpfen, denen es aber eigentlich nur um ihren eigenen Vorteil geht. Dabei bleiben sie charakterlich zwar ziemlich blass (nach dem ersten Band gibt es keine neuen Charakterzüge), doch ihre zwischenmenschliche Chemie – die irgendwie an „Asterix und Obelix“ erinnert – macht sie für die LeserInnen interessant. Dabei stehen sie vollkommen im Fokus, denn andere Figuren, die mehr als einen Band lang mit dabei sind, stehen entweder grimmig intrigierend im Hintergrund (der Papst und die Hunde Gottes) oder dienen nur als Vehikel, um die Geschichte voran zu treiben (die Kapitänin Rowena, die gefühlt jede Seite zwischen Love Interest, Damsel in Distress und Amazonenkriegerin hin und her wechselt). Zudem wirken die beiden Protagonisten, gerade wenn sie gemeinsam agieren, ziemlich übermächtig: Man hat nie das Gefühl, dass sie wirklich in Gefahr geraten, denn sie können es im Kampf locker mit einer Übermacht aufnehmen und wenn es mal ein Rätsel gibt, dann rettet der blitzgescheite Readwald stets den Tag. Letzteres möchte ich aber gar nicht kritisieren, denn bei all den brachialen Kämpfen und tödlichen Intrigen sind es ausgerechnet die eher leisen Kriminalermittlungen, die beim Lesen den meisten Spaß machen – Das erinnert stellenweise fast schon an den legendären Sherlock Holmes :-D Was beim Lesen eines Einzelbandes nicht auffallen wird, wohl aber, wenn man die komplette Serie hintereinander weg liest: Einige Szenen wiederholen sich vom narrativen Aufbau her, sodass ich fast schon gewillt bin, von einem Running-Gag (jede Frau verliebt sind sofort in den muskulösen Arnulf und macht sich nackig) oder einem Signature Move (gefühlt jeden „Endgegner“ tötet Readwald damit, dass er das in seinem Kreuz versteckte Messer als Wurfgeschoss verwendet und dann hinterher behauptet, der Glaube hätte das Opfer getötet) zu sprechen. Aber irgendwie sind mir diese Szenen, trotz ihrer Erwartbarkeit, sehr sympathisch – Vielleicht, weil sie das eigentlich sehr düstere Setting ein wenig auflockern. Denn Düsternis ist das richtige Stichwort, wenn man über „Millennium“ spricht: Hier werden keine Kompromisse und erst recht keine Gefangenen gemacht! Das geht in einigen wenigen Szenen soweit, dass man fast schon von Torture Porn sprechen kann – Was mich persönlich eher abgestoßen hat, weil oft doch viel zu offensichtlich war, dass es hier ausschließlich um einen plakativen Schocker ging :-( Genauso verhält es sich auch mit der Nacktheit: Gerade in den späteren Bänden bekommt man den Eindruck, als hätte es eine Brüste-Quote gegeben ;-) Sicherlich hat das ja einen tieferen Sinn, weil es die prä-apokalyptische Dekadenz der Epoche darstellen soll, und sicherlich wird das alle „Game of Thrones“-ZuschauerInnen nicht weiter vom Hocker reißen – Aber letztendlich ist einfach viel zu offensichtlich, dass es sich bei den Zeichnungen lediglich um plump-plakative Eyecatcher handelt... Dabei hätten die Zeichner François Miville-Deschênes (#1-5) und, wenn auch etwas schwächer, Roberto Viacava (#6) das gar nicht nötig gehabt, denn auch so leisten sie sehr gute, wundervoll düster-atmosphärische Arbeit. Da ist es nur angemessen, dass „Bunte Dimensionen“ (welche mir dankenswerterweise Rezensionsexemplare zur Verfügung stellten) die jeweils 56 Seiten umfassenden Bände als qualitativ hochwertige Hardcover veröffentlicht hat. Fazit: Mit „Millennium“ (Link) ist dem kleinen Augsburger Verlag ein Glücksgriff gelungen, denn die Reihe bietet atmosphärisch sehr dichte und auch ziemlich spannende Dark Fantasy-Geschichten :-)