Der von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos verfasste Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ gilt als ein Hauptwerk der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, als echter Skandalroman und auch als Sittengemälde des ausgehenden Ancien régime. Mehrfach wurde er verfilmt, dabei teilweise auch als moderne Interpretation (z.B. „Eiskalte Engel“, einem Kultfilm meiner Jugend). Und mit „moderne Interpretation“ kann ich nun auch ganz trefflich überleiten zum Comic-Autor Stéphane Betbeder, welcher schon so manchen Genre-Klassiker (respektvoll formuliert) umgedeutet hat – Ich denke da beispielsweise an die Sherlock-Blasphemie „Dr. Watson“ (Link) oder an den verstörenden Zombie-Killerkrankenschwester-Thriller „Alice Matheson“. Nun versucht er sich also an der Vorgeschichte dieses Klassikers – Ob das was wird? Sébastien Valmont ist der jüngste Spross einer reichen Adelsfamilie. Im Gegensatz zu seinen zahlreichen Geschwistern, die alle in den ihnen zugedachten Rollen aufgehen, hat er für die Pläne seines machtbewussten Vaters keine große Bedeutung. Er ist schwach und nervenkrank, dazu ein naturwissenschaftlich interessierter Sonderling, sodass er mit seinen Schwestern in der überfürsorglichen Obhut seiner Mutter aufwachsen muss. Doch das Schicksal nimmt eine radikale Wendung, als die verwitwete Comtesse de Senanges in sein Leben tritt: Eigentlich will sie nur ihren Sohn mit Sébastiens ältester Schwester verheiraten, doch dann findet sie Gefallen an dem sonderbaren Jüngling. So führt sie den jungen Knaben (sein genaues Alter wird nicht genannt, aber da fehlen definitiv noch ein paar Jahre bis zur Volljährigkeit ;-)) nicht nur in die Gepflogenheiten des Adels ein, sondern auch noch in die Kunst der körperlichen Liebe. Dieser wiederum erweist sich als gelehriger Schüler, der sein erlerntes Wissen alsbald an der jungfräulichen Nichte der Comtesse anwendet… Nun hätte sie ihm vielleicht auch etwas über Verhütung beibringen sollen (oder er hätte sein Biologie-Nerdwissen einfach mal an sich selbst angewendet :-P), denn natürlich wird die Nichte schwanger. Was der Comtesse gar nicht gefällt, weil sie sich erstens in Sébastien verliebt hat und wie sie zweitens den Skandal fürchtet. So wird die schwangere Nichte einfach mit dem Comtesse-Sohn verlobt und nach Übersee verschifft, was Sébastien wiederum überreagieren lässt! Stéphane Betbeder bietet mit „Gefährliche Liebschaften: Vorspiel #1“ also das ganz große, skandalöse Drama mit allem, was man von einer solchen Geschichte erwartet: Enttäuschter Liebe, rachsüchtigen Intrigen und aufkeimender Leidenschaft. Er schafft es dabei sogar überraschend gut, das Wesen eines Briefromans auf das Medium des Comics zu übertragen. Das ganze Lob soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die eigentliche Handlung dann doch eher dünn ist. Ich will nicht bösartig klingen, aber wenn man sich die historischen Kostüme mal wegdenkt, entwickeln sich plötzlich starke Story-Assoziationen zu Softerotik-Coming-of-Age-Filmen nach dem Reißbrettmuster „Nerd wird von dominanter Milf verführt, woraufhin er in der Lage ist, die unschuldigen Hotties abzuschleppen“ ;-) Ein altbekanntes, funktionierendes Konzept, was definitiv seine LeserInnen finden wird – Ich kann mir richtig vorstellen, wie eine Verfilmung dieses Comics zur Ladys Night für volle Kinosäle und leere Piccolo-Fläschchen sorgen würde. Und das ist vollkommen okay so, denn Betbeder schafft es routiniert zu unterhalten :-) Aber ich hatte beim Lesen die ganze Zeit das Gefühl, als ginge er hier (möglicherweise aus Ehrfurcht vor dem großen Original?) auf Nummer sicher – Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal schreiben würde, aber ich habe die Radikalität seiner „Dr. Watson“-Interpretation vermisst! Ebenso auf Nummer sicher gehen Djief und Merlet, welche sich für eine passende und sehr solide, aber auch ziemlich konservative grafische Umsetzung verantwortlich zeigen. Fazit: „Gefährliche Liebschaften: Vorspiel #1“ (Link) bietet auf 56 Seiten einen in sämtlichen Belangen grundsoliden, unterhaltsamen Comic :-) PS: Aus Gründen gibt es diesen Monat Screenshots statt Fotos. Sämtliche Bildrechte liegen beim „Splitter Verlag“, welcher mir dankenswerterweise ein Rezensionsmuster zur Verfügung stellte.
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