Es scheint beim „Mantikore Verlag“, der deutschen Instanz in Sachen Solo-Spielbücher, eine perfide Veröffentlichungsagenda zu geben: Während man aller paar Monate einen mehr oder minder schlecht gealterten Klassiker raushaut, um die Fans bei der Stange zu halten, gibt es aller zwei Jahre ein monumentales Spielbuch-Highlight. Das fing 2012 mit dem Umfangsweltrekord „Reiter der Schwarzen Sonne“ an, setzte sich 2014 mit dem märchenhaften Erstlingswerk „Das Feuer des Mondes“ fort und gipfelte dann 2016 vorläufig in das Musik-Erlebnis „Metal Heroes and the Fate of Rock“). Nun haben wir 2018 und der für seine „Legenden von Nuareth“-Romane (Besprechung der letzten beiden Romane im Podcast, Link) bekannte Autor Jörg Benne versucht, an diese erfolgreiche Tradition anzuknüpfen... 

 
Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Solo-Spielbüchern auf dem Markt spielt „Verax: Das Experiment“ nicht in der Vergangenheit oder einer obskuren Fantasywelt, sondern in der fernen Zukunft: Ein kleines Piratenraumschiff muss schwer beschädigt vor seinen außerirdischen Häschern fliehen und landet, dank einem Notfall-Hyperraumsprung, mehr schlecht als recht vor den Toren der Raumstation „Galenus Five“. Mit knapper Not gelingt der Crew eine brachiale Bruchlandung in deren Hangar – Doch niemand eilt zur Hilfe, denn scheinbar ist alles verlassen... Rückblickend betrachtet ist sie das dann aber leider doch nicht, denn sonst müssten sich die SpielerInnen in den Rollen des Soldaten Alexej Volkov oder des Ingenieurs Luis Velazquez nicht mit allerlei Weltraumzombies (eine spoilerfreiere Beschreibung fällt mir jetzt nicht ein ;-)), schießwütigen Militärs und den in solchen Settings natürlich obligatorischen Größenwahnsinnigen herumschlagen. 

 
Spielmechanisch ist „Verax: Das Experiment“ natürlich erst einmal ein klassisches Spielbuch: Daher, man liest einen Abschnitt und kann sich dann meistens entscheiden, wie es weitergehen soll. Wird man im Abschnitt 238 etwa von zwei schwerbewaffneten Soldaten entdeckt, kann man sich entweder dazu entscheiden sich zu ergeben (bei Abschnitt 221 weiterlesen) oder aber man feuert sich einen Fluchtweg frei (bei Abschnitt 247 weiterlesen). Rollenspieltypisch verwaltet man zudem verschiedene Charakterwerte (beispielsweise Gesundheit und Vorsprung – einer Art Zeitmechanismus, der angibt, wie nah etwaige Verfolger sind) sowie sein Inventar, welches man mit allerlei nützlichen Gegenständen (z.B. Schlüsselkarten, Schraubenziehern) und Waffen bestücken kann. Bei einem Kampf – und dazu kommt es häufiger, wobei man als Ingenieur jedoch mit den richtigen Entscheidungen alle Kämpfe vermeiden kann – würfelt man eine etwas komplizierte 2W6-Probe, bei der die verschiedenen Grundwerte und Modifikatoren (etwa Deckung und Bonusschaden) zum Zuge kommen. Leider unterscheiden sich die Probenvorgänge von Nah- und Fernkämpfen, sodass ich das Prozedere immer mal wieder nachlesen musste. Eine immer gleiche Probenmechanik wäre da wohl die elegantere Lösung gewesen, was aber auch schon der größte Kritikpunkt an diesem Solo-Spielbuch ist. 

 
Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass es sonst eigentlich keine nennenswerten Kritikpunkte gibt: Die Geschichte, welche vom Genre her klar in Richtung SciFi-Survival-Horror tendiert, unterhält mit gut geschriebenen und verständlichen Texten. Hier merkt man einfach die große Routine von Jörg Benne, der ja nun schon einige Romane verfasst hat :-) Wobei, eigentlich ist es fast untertrieben, dass ich von der Geschichte rede, denn eigentlich müsste ich von den Geschichten reden! Denn anders, als beispielsweise bei den oben in der Einleitung genannten Spielbuch-Meisterwerken, gibt es in „Verax: Das Experiment“ nicht nur eine Geschichte, bei der man lediglich einige Story-Schlenker nach links und rechts unternehmen kann, um dann letztendlich doch wieder an den gleichen Knotenpunkten und schließlich am selben Ende zu landen. Stattdessen kann man zahlreiche Entscheidungen treffen (ein richtig oder falsch gibt es in dem Sinne nicht, dafür hat jede Wahl ihre Konsequenz), die zu verschiedensten Enden führen. Und damit meine ich jetzt nicht klassische „Du bist tot“-Enden (obwohl es die auch gibt, und entsprechend dem SciFi-Survival-Horror-Genre auch nicht wenige ;-)), sondern logische, glaubwürdige und narrativ vollwertige Enden, welche die LeserInnen befriedigt zurück lassen. So viele Storyverzweigungen führen jedoch dazu, dass ein einzelner Spieldurchgang eher kurz ist und ungefähr 120 Abschnitte des über 700 Abschnitte umfassenden Solo-Spielbuchs umfasst. So kann man, jetzt im Herbst beispielsweise an einem verregneten Nachmittag, gleich mehrere sehr verschiedene Abenteuer erleben. Durch fair gesetzte Speicherpunkte kommt dabei auch bei einem Tod kein Frust auf, sodass man mit diesem Buch einfach eine ganze Menge Spielspaß hat. Also wieder ein echtes Meisterwerk, dass der „Mantikore Verlag“ (welcher mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) für 16,95 € als 676 Seiten umfassendes Taschenbuch verkauft. 

Fazit: Der „Mantikore Verlag“ (Link) bleibt seiner „Aller 2 Jahre ein echtes Highlight“-Verkaufsstrategie auch mit „Verax: Das Experiment“ (Link) treu :-D Ein wirklich gelungenes, spannendes und vor allem abwechslungsreiches Spielbuch-Meisterwerk, dass sich alle RollenspielerInnen unbedingt mal anschauen sollten!