Wenn man (so wie ich) nicht gerade in der hinterletzten Provinz wohnt, kann man sein Leben mittlerweile schon ziemlich vollautomatisiert und komfortabel genießen. Bezahlung ohne Bargeld, Einkaufen mittels Sprachsteuerung (Alexa lässt grüßen), intelligente Küchengeräte, eine durch Algorithmen bestimmte Wohlfühl-Filterblase und bald auch selbstständige Autos – Dank Kaffeevollautomat muss man nicht mal mehr selbst Milch in den Kaffee kippen :-D Meine LeserInnen mögen selbst entscheiden, ob unser Leben sich gerade eher in Richtung einer Utopie oder einer Dystopie entwickelt ;-) Der Protagonist der Comic-Trilogie „Chaos“ hat sich seine Meinung schon gebildet... Es herrscht Bürgerkrieg in einer postapokalyptischen Zukunft: Der technikfeindliche Patriarch, immerhin schon stattliche 129 Jahre alt, metzelt quasi im Alleingang die Verteidiger einer belagerten Stadt nieder. Ihm geht es nicht um Ruhm oder Raub, er will einfach nur den Einsatz eines per Dampfmaschine betriebenen Fahrzeugs verhindern – Denn selbst primitivste Technik ist für ihn Teufelszeug, das die „alte“ Welt in den Untergang gestürzt hat... Doch wie kam es überhaupt zu diesem Weltuntergang und warum ist der Patriarch so technikfeindlich? Genau diese Fragen will der erste von drei Bänden der „Chaos“-Trilogie klären. Der später mal radikale Patriarch heißt François Deschamps, ein ziemlich arroganter und schon damals zumindest fortschrittsfeindlicher und konsumkritischer Schulabgänger, der 2052 eigentlich nur sein Studium der Agrochemie beginnen will. Dass er das Auswahlverfahren als Bester bestanden hat, will er mit seiner Jugendfreundin Blanche Rouget feiern – Doch die ist gerade dabei, sich als laszive Sängerin Regina Vox dem Kommerz aufzuopfern. Das findet François natürlich gar nicht toll, aber noch ehe sich die beiden aussprechen oder gar versöhnen können, führt ein totaler Stromausfall zum Beginn der Endzeit... Der erste Band der „Chaos“-Trilogie teilt sich im Prinzip in zwei Abschnitte auf: Das erste Drittel handelt vom postapokalyptischen Bürgerkrieg, die letzten beiden Drittel vom Weg in die Katastrophe. Ich will gar nicht drumherum reden: Dieses erste Drittel, also der Ausblick in die düstere Zukunft, retten die Geschichte vor der absoluten Mittelmäßigkeit. Nein, das ist eigentlich sogar untertrieben: Dieser ungemein atmosphärische Ausblick ist ein einziges Versprechen, eine Verlockung, eine Verheißung – Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass er der einzige Grund ist, warum ich diese Serie weiter lesen werde! Nun bedeutet das im Umkehrschluss aber auch, dass die letzten beiden Drittel eben leider nicht meine Begeisterung wecken konnten. Das liegt dabei noch nicht mal an dem Setting, denn hier denkt Autor Jean-David Moran (beziehungsweise René Barjavel, der die Romanvorlage "Ravage" verfasste) die aktuellen Trends und Tendenzen unserer Welt konsequent weiter – Es ist absolut glaubhaft, dass unsere Welt im Jahr 2052 wirklich mal so aussehen könnte. Eigentlich also eine gute Grundlage, auf der er einen spannenden Prolog hätte aufbauen können. Nur tut er das leider nicht :-( Das liegt gleich an dreierlei Problemen: Erstens sind die Figuren absolut flach entworfen. François ist halt einfach von Natur aus ein besserer Mensch (glaubt er zumindest), Blanche ist ein einfach nur naiv und ihr schmieriger Produzent Jérôme Seita ist sozusagen die „Chaos“-Variante von Harvey Weinstein. Die Figuren sind allesamt unglaublich eindimensional entworfen und hier kommen wir zum zweiten Problem: Der Protagonist François ist einfach so unfassbar unsympathisch, dass ich mir am Ende dieses Auftaktbandes innig gewünscht habe, er möge doch von einem Flugtaxi erschlagen werden... François ist das Musterbeispiel eines eitlen, arroganten, von Oben auf seine nicht seinem Lebensstil folgenden Mitmenschen herabschauenden Kampf-Öko-Intellektuellen – Ein echter Unsympath eben, der als Identifikationsfigur grandios versagt. Das dritte Problem ist dann die eigentliche Handlung des Prologs: Die ist total vorhersehbar – Und damit meine ich nicht, dass man durch das erste Drittel oder gar das Titelbild ja schon weiß, dass es zu einer Katastrophe kommen wird :-P Aber die Figuren werden so flach charakterisiert, dass ihre Funktionen im Handlungsverlauf schon bei der Einführung mehr als offensichtlich sind – Besonders unterstützt durch die fast schon als Karikatur durchgehenden Figurenzeichnungen. Hier gibt es einfach keinerlei Überraschung. Wirklich schade... Wo ich schon die Zeichnungen anspreche: Die sind durchaus gefällig im Prologteil und sehr atmosphärisch in der postapokalyptischen Zukunft. Gerade auch durch die stimmungsvolle Kolorierung. Ebenfalls gefällig ist wie immer die Druckqualität vom „Splitter Verlag“ (welcher mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), welcher für 48 Seiten im Hardcover akzeptable 14,80 € verlangt. Fazit: Der Trilogie-Auftaktband „Chaos #1“ (Link) besteht zu zwei Dritteln aus einem inhaltlich schwachen, vom Setting und den Zeichnungen her aber gefälligen Prolog. Das postapokalyptische Drittel ist dafür eine spannende, sehr atmosphärische Verheißung und sorgt dafür, dass ich letztendlich doch wissen will, wie es weitergehen wird.
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