Ich will jetzt nicht wieder meinen Einleitungstext der Basisregelwerk-Rezension recyceln, aber "Ultima Ratio" ist und bleibt einfach ein sehr umstrittenes Rollenspiel. Selbst im Kommentarbereich meines kleinen Blogs hier sind die Meinungen eher heterogen ;-) Zugegeben, auch für mich persönlich als Rezensent waren trotz des verhalten-optimistischen Fazits manche Designentscheidungen eher unverständlich - Darum habe ich einfach den Autoren Nikolas Tsamourtzis um ein Interview gebeten und er hat sich die Zeit genommen, mir sein Werk ausführlich zu erklären :-) Jetzt verstehe ich von der Hintergrundwelt und den Designentscheidungen eine ganze Menge mehr ;-) Hallo Nikolas. Bevor wir zu Deinem Rollenspiel "Ultima Ratio - Im Schatten von MUTTER" kommen, magst Du Dich den Lesern bitte kurz vorstellen?
"Ich heiße Nikolas Tsamourtzis, bin 34 Jahre alt, liebe lange Spaziergänge am Strand, Vanilleeis mit Karamellsauce und bin für den Weltfrieden ... Außerdem bin ich mit Carolina Misanovic und Thomas Klaus einer der drei Entwickler, die für "Ultima Ratio – Im Schatten von MUTTER" verantwortlich sind."
Magst Du Dein System und die Spielwelt bitte kurz vorstellen? Was macht es im Vergleich zu anderen SciFi-RPGs besonders?
"Kommen wir zuerst zum W4-System, für das in der Tat nur ich verantwortlich bin und mich an dieser Stelle schon bei allen Spielern entschuldige, die in Zukunft ihre verlorenen Spielgeräte schmerzhaft mit den Fußsohlen wiederfinden sollten. Ich wollte ein System entwickeln, das einerseits die Realität ganz gut widerspiegelt und andererseits nicht zu kompliziert wird. Heldenstufen, Abenteuerpunkte oder ähnliches waren mir schon immer ein Dorn im Auge, besonders dann, wenn die endlosen Diskussionen am Tisch anfingen, ob man jetzt jene Fertigkeit steigern darf oder eher doch nicht, weil man sie in den ganzen vorangegangenen Abenteuern nicht benutzt hat. Außerdem war es in vielen Systemen nur bedingt möglich, Fertigkeiten außer der Reihe zu verbessern, wenn keine Abenteuerpunkte auf Halde waren. Auch haben mich bei bestimmten Spielen die schiere Anzahl an Würfeln, die für Proben geworfen werden, gestört. Bei unserem W4-System werden nie mehr als 10 Würfel benötigt, meistens eher weniger. Dafür werden Grundrechenarten wie Addition und Subtraktion reaktiviert. Denn Ultima Ratio hat keinen Mindestwurf, sondern eine numerische Schwierigkeit. Das führt allerdings auch dazu, dass ein Spieler bei einer Aufgabe eventuell auch mal passen muss, weil er rein rechnerisch mit den Spielwerten seines Protagonisten die Schwierigkeit nicht erreichen kann. Damit soll der kooperative Gedanke von Rollenspielen unterstützt werden, indem beispielsweise die Aufgabe gemeinsam erledigt wird. Bei der Spielwelt geht es weniger um die einzelnen Aspekte als die Mischung. Ähnlich wie in der Fantasy kann man die Science Fiction nicht mehr völlig neu erfinden, ohne dabei zu riskieren, nur noch einem sehr elitären Kreis zu gefallen. Die Welt von "Ultima Ratio" ist eine futuristische Dystopie. In ihrem Zentrum steht das im Themis Rho Cluster beheimatete Lukeanische Reich, ein dem Markt alles andere unterordnender von Künstlichen Intelligenzen – allen voran MUTTER – administrierter Überwachungsstaat. Das Glück Weniger auf dem Reichsplaneten Lukea wird mit dem Schweiß und Blut der Bevölkerung der Kolonien und Protektorate des Reiches erkauft. Der Alltag außerhalb des Paradieses ist vom täglichen Wettstreit um Wohlstand und manchmal sogar vom Kampf ums nackte Überleben gekennzeichnet. Auf der einen Seite gibt es die Bürger des Reiches, alle Träger eines KIND – Kredit Identifikations Nano Datenspeicher. Dieser ermöglicht es den Künstlichen Intelligenzen die Bürger auf Schritt und Tritt zu „umsorgen“. Auf der anderen Seite die KINDlosen, die in diesem System nichts zählen, sozusagen nicht mal existieren. Dies führt dazu, dass sich ihr Leben extrem von den Bürgern des Reiches unterscheidet. Einfachste Dinge, wie beispielsweise Einkaufen, Reisen, der Zugang zu Bildung und Arbeit oder das Betreten von Stationen und Kolonien, gestalten sich schwierig bis unmöglich. Als Bürger des Lukeanischen Reiches soll man nur mit den Dingen in Kontakt kommen, die für das aktuelle Kreditlevel bestimmt sind. Den Blick hinab ins Elend wird man ihm genauso ersparen, wie den zu weit nach oben. Ihm wird gerade so viel serviert, dass er Angst vor dem Abstieg entwickelt und genug Ansporn für den Aufstieg verspürt. Trotzdem können auch im Leben mancher Bürger Ereignisse eintreten, die dann aber doch einen Blick auf das große Ganze ermöglichen und spätestens dann stellt sich die Frage, wie man auf diese Wahrheit reagiert. In unserer Welt kann man sich also auf mehreren Seiten bewegen. Entweder konform mit dem System des Reiches, dieses versuchen zu umgehen oder eben sogar bekämpfen. Beispielsweise kann man innerhalb des Systems seine Abenteuer als Steuerfahnder, lizensierter Kopfgeldjäger oder auch beim Militär suchen. Als Systemgegner kann ich mich für Widerstandskämpfer, Untergrundaktivist und Politiker, die das System von innen heraus verändern wollen, entscheiden. In der dritten Variante kann ich mein Glück in der Freiheit mit meinem eigenen Raumschiff suchen, beispielsweise als Pirat, Forscher oder Kaufmann. Das sind natürlich nur einige wenige Beispiele. Darüber hinaus bietet "Ultima Ratio" eine schier endlose Zahl an Möglichkeiten, eigenen Kolonien und Welten zu etablieren, sei es im Lukeanischen Reich oder später auch darüber hinaus."
Vielen Dank für diesen kurzen Überblick, der schon etwas Licht ins Dunkel bringt. Wenden wir uns mal einem Thema zu, welches von den verschiedenen Rezensenten und Bloggern teils kontrovers aufgenommen wurde: Das Regelwerk und die Settings werden getrennt verkauft. Darum eine Frage, die sicher schon öfter kam: Warum so und nicht gleich ein komplettes Buch?
"Das hat gleich mehrere Gründe. Zuallererst wollten wir ein Spiel entwickeln, dass auch für Einsteiger in die Materie nicht zu einschüchternd ist und hoffen natürlich dabei erfahrene Rollenspieler nicht komplett vor den Kopf zu stoßen. In vielen Gesprächen mit Einsteigern oder am Rollenspiel interessierten Menschen, die wir über die Jahre so kennengelernt haben, kamen immer wieder die gleichen Sätze. Sinngemäß klang das so: „Rollenspielen klingt ja total interessant, aber ich will keine 300 Seiten lesen müssen, um ein Spiel spielen zu können.“ Das hat uns dazu gebracht, die eigenen Anfänge im Rollenspiel nochmal zu rekapitulieren. Dabei sind wir auf Veröffentlichungen wie die erste Basis-Box des "Schwarzen Auges" oder die von "Dungeons & Dragons" gestoßen. Beide hatten gemeinsam, dass man auf wenig Seiten gerade genug Erklärung bekam, um mit dem Spielen anfangen zu können. Die Rollenspiel-Industrie hat sich inzwischen zu den 300-400 Seiten Basisbüchern entwickelt und viele Erweiterungen sind ebenfalls im dreistelligen Seitenbereich. Für Einsteiger ist das sowohl vom Volumen als auch vom Preis eine nicht zu unterschätzende Hürde. Diese wollten wir ihnen nehmen. Aber auch ehemaligen Rollenspieler, die aufgrund von Beruf, Familie oder breit gefächerter Freizeitaktivitäten im Alltag weniger Zeit fürs Rollenspiel haben als noch zu Schulzeiten, wollten wir mit dem geringeren Volumen einen Wiedereinstieg in ihr Hobby erleichtern. Die Trennung zwischen Regelwerk und Settings erfolgt aber auch noch aus einem anderen Grund. Im allgemeinen ist es bei Spielrunden heute üblich, dass einer der Spieler, meistens der Erzähler, aus oben genannten Gründen das Basisbuch besitzt. Die Trennung ermöglicht es den Runden hier nun andere Wege zu gehen: Bei "Ultima Ratio" kann jeder Spieler ein eigenes Regelwerk besitzen ohne dafür gleich 40 bis 60 Euro zu investieren. Wir verstehen "Ultima Ratio" zudem als ein Sandbox-System, auch wenn wir selber natürlich eine ziemlich genaue Vorstellung von der Welt haben und diese auch – zusätzlich zu den Rollenspiel-Veröffentlichungen – in Form von Anthologien, Heftserien und Romanen beleuchten werden. Die verschiedenen Spielrunden können sich aber aus unseren Veröffentlichungen im Rahmen des Spiels einfach die Sachen heraussuchen, die sie wirklich interessant finden. So bietet das "Kolonie-Handbuch Auda" bereits einen Gesamtüberblick über die Kolonie und wer die Lücken mit seiner eigenen Fantasie füllen möchte, ist hierzu herzlich eingeladen. Für andere, die unserer Version folgen wollen, wird es sicherlich irgendwann auch noch Veröffentlichungen zu Phönix oder Weißenthron geben."
Was hat Dich zu diesem Setting gebracht? Und hast Du die Regeln gezielt auf ein Setting hin entwickelt, oder kamen erst die Regeln?
"Zuallererst muss ich hier gleich einhaken und sagen, dass es nicht nur mein Setting ist und es daher verschiedene Gründe gibt, die zu "Ultima Ratio" geführt haben. Ich für meinen Teil bin ein großer Fan des Genre Science Fiction, habe aber in den bestehenden Spielsystemen und Welten keine permanente Heimat gefunden und daher Interesse daran entwickelt, eine eigene zu schreiben. In meinem privaten wie beruflichen Umfeld gab es einige Autoren und Spieler, die ähnlich dachten und so entstand die Idee eines gemeinsamen Projektes. Daraufhin hat jeder seine Ideen in das Setting einfließen lassen und wir haben sie in gemeinsamer Runde aufeinander abgestimmt. Am Anfang von "Ultima Ratio" war auch nicht zwingend klar, wohin genau die Reise geht. Wir haben uns primär erst einmal um die Welt gekümmert und wenig in Richtung Regeln unternommen. Als für uns die Welt Gestalt angenommen hatte, haben wir zuerst uns bekannte Regelsysteme benutzt, um unsere ersten Schritte in der neuen Welt zu gehen. Mit der Zeit kam dann aus den vorher genannten Gründen die Ambition dazu, auch eigene Regeln zu entwickeln und dies wiederum geschah gezielt im Hinblick auf das Setting."
Wie kamst Du auf die Idee, ein eigenes Rollenspiel zu entwickeln?
"Ich glaube das viele ambitionierte Rollenspieler irgendwann einmal daran denken ein eigenes Spiel zu entwickeln oder zumindest an bestehenden Spielen mitzuarbeiten. Demnach ist die ursprüngliche Idee ein eigenes Spiel zu entwickeln weit älter als "Ultima Ratio". Erst das Zusammenspiel mit den richtigen Leuten hat aber auch die Motivation entstehen lassen, diesen Weg konsequent zu verfolgen und die lange Entwicklungszeit durchzustehen."
Plaudere doch mal aus dem Entwickler-Nähkästchen. Wie kann ich mir die Entwicklung eines Rollenspiels so vom Arbeitsablauf und Arbeitsaufwand vorstellen?
"Ich kann hier nur sagen wie wir an unserem Rollenspiel gearbeitet haben. Da alle an der Entwicklung beteiligten Personen im Großraum Düsseldorf gewohnt haben, war es für uns einfach, viel im persönlichen Kontakt zu arbeiten. Wir haben uns wie bereits angesprochen anfangs ausgiebig mit den Grundzügen des Settings befasst. Stimmung, politische Rahmenbedingen, Technologielevel und so weiter. Ziemlich schnell kam noch ein parallel geführtes Entwickler-Forum. Gerade in der Anfangsphase war der Arbeitsaufwand enorm, insbesondere weil man in der Science Fiction in der Regel bei Null anfängt. Die Tatsache, dass unsere Erde im Universum von "Ultima Ratio" keine Rolle spielt, sondern die Geschichtsschreibung der ersten Siedler an Bord der Generationenschiffe beginnt, hat es uns nicht wirklich einfacher gemacht. Während wir die Grundlagen gemeinsam entwickelten, beackerte allerdings auch jeder seine eigenen Baustellen in Form von einzelnen Kolonien oder den verschiedenen Spezies. Im späteren Verlauf der Entwicklung wurden aus den wöchentlichen Autoren-Treffen immer häufiger Testspielrunden. Anfangs um die eigene Welt zu besuchen und aus den Augen der Bewohner zu betrachten. Später dann natürlich um das eigene Regelsystem zu erproben und an den Mechaniken zu feilen. Als sich die Welt für uns Entwickler komplett genug angefühlt hat, um andere in sie einzuladen, haben wir damit angefangen im persönlichen und – im letzten Schritt dann im erweiterten – Umfeld Testspieler zu rekrutieren. Deren Feedback begleitete uns dann in den letzten Jahren bis zur Veröffentlichung und hat uns gerade in schwierigeren Phasen dabei geholfen, immer an dem Projekt festzuhalten."
Und wie ist die Resonanz der Spieler? Konnten die bisherigen Erwartungen erfüllt werden?
"Die Resonanz, die zu uns durchgedrungen ist, ist ziemlich positiv. Natürlich hätten manche nichts gegen ein 300 Seiten starkes Basisbuch gehabt, aber gerade aus der Richtung der (Wieder-)Einsteiger kamen sehr viel lobende und ermutigende Worte. Unsere bisherigen Erwartungen wurden daher ziemlich übertroffen. Insbesondere, weil unsere Veröffentlichung „Das Lukeanische Reich“, die ja im eigentlichen Sinne den Hintergrund unserer Spielwelt erklärt, erst in Kürze erscheint."
Wie wird die Zukunft aussehen? Auf welche weiteren Erweiterungen dürfen wir uns freuen?
"In naher Zukunft wird zum einen die eben angesprochene Veröffentlichung „Das Lukeanische Reich“ erscheinen, die Einblicke in das große Ganze geben wird und den Hintergrund der lukeanischen Gesellschaft im Detail beleuchtet. Zeitnah erscheint dann mit dem „Raumer-Handbuch“ eine Erweiterung, die das Hintergrundmaterial für Kampagnen an Bord eines Transportschiffes liefert und den Alltag von Raumern beschreibt, der vom Kampf ums Überleben gezeichnet ist. Mitte des Jahres wird dann mit „Anfängerglück“ die erste Folge unserer neuen Abenteuerserie rund um eine eingeschworene Truppe von Raumern an den Start gehen. Die Veröffentlichung enthält eine vorgefertigte Crew, die insbesondere Spielern die einfach loslegen wollen und kompletten Einsteigern den Start erleichtern sollen. Sie kann aber auch ohne Anpassungsarbeit mit selbst erstellten Protagonisten gespielt werden. Mit „Raster“ haben wir in diesem Jahr auch noch die erste Folge unserer Heftromanserie über die Kopfgeldjägerin Ders Arkadh auf dem Veröffentlichungsplan stehen. Und zur SPIEL '15 wollen wir uns auch nicht lumpen lassen und mit einer Exklusiv-Veröffentlichung zugegen sein. Welche das ist möchte ich aber jetzt noch nicht verraten."
Nikolas, ich danke Dir herzlich für diese zahlreichen Informationen und freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen! Interessierte Leser können sich dazu auf eurer Webseite (Link) weiter informieren!
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